Ernst-Günther Tietze: "Leben mit Karin", Leseproben 

© Copyright 2001 Ernst-Günther Tietze

  
Hab’ Dank Geliebte, für die 45 wundervollen Jahre, 
in denen Du mein Leben reich und schön gemacht hast!

Literaturverzeichnis

Einleitung 

Zwei Jahre nach Dietlinds Tod lernte ich Karin kennen und lieben. Die folgenden Erinnerungen, Brief- und Tagebuchausschnitte beschreiben das Entstehen und Bestehen dieser wundervollen, mehr als 45 Jahre währenden grenzenlosen Liebe zwischen uns. Die ersten zwei Jahre, in denen wir getrennt lebten, sind durch Briefauszüge dokumentiert, alle folgenden durch Erinnerungen, Reisetagebücher und einige weitere Briefe.  

Selten gab es Unstimmigkeit oder Streit zwischen uns, und stets gelang es uns dabei, den Partner als geliebten Menschen mit lediglich konträrer Meinung zu achten und seine Würde zu wahren. Nie dauerte eine Meinungsverschiedenheit über den Tag hinaus. Bei allem, was uns begegnete, waren wir ganz sicher, den Partner viel stärker zu lieben, als irgend jemanden oder irgend etwas anderes. Wir beide wussten um den Wert des Satzes „Liebende leben von der Vergebung“. Ich habe die Vergebung der geliebten Frau oft genug gebraucht – und bekommen. Dass wir sehr oft zur selben Zeit genau das Gleiche dachten, war uns der Beweis einer seelischen Übereinstimmung, wie sie nur aus tiefer Liebe entsteht.Und die herrliche körperlichen Gemeinschaft war uns immer wieder ein Wunder, das deshalb auch zur Dokumentation unserer Liebe gehört.  

1. Zueinander finden      

1956

Erinnerung: März / April 1956 im Harz
Ostern plane ich eine Fahrt mit meinem Stamm nach Westdeutschland. Mein Freund empfiehlt mir St. Andreasberg im Harz. Schmunzelnd fügt er hinzu: „Wir sind dort mit einer Familie befreundet, deren Tochter Karin du kennst, sie hat hier im Kunstgewerbeladen gearbeitet“. Das ist das stärkste Argument: Ich sehe ein anmutiges blondes Mädchen in dem kleinen Laden sitzen und sticken.
Du bist, obwohl jetzt 20 Jahre alt und reifer geworden, noch genau so anmutig wie früher: schlank mit langen blonden Haaren und blaugrauen Augen mit einem goldenen Rand der Iris in deinem schönen, offenen Gesicht. Mit einem Mal weiß ich, dass ich nun lange genug um Dietlind getrauert habe. 

Neben vielen Streifzügen durch die schöne Gegend gestalten wir einen offenen Abend mit Sketches, Liedern und einem von mir erarbeiteten Laienspiel über den Philemonbrief. Ich freue mich, dass du unter den Zuschauern bist.
Beim Abschied sehe ich wieder die Wärme in deinen schönen Augen. Da weiß ich ganz genau, dass ich dich gewinnen will. Ich bin überzeugt, dass du eine ebenso wertvolle und bestimmt auch liebevolle Frau bist wie Dietlind. Aus Berlin schreibe ich einen Dankesbrief an deine freundlichen Eltern, in dem ich als kleinen Angelhaken für dich die Bitte um eine Kritik an unserem offenen Abend verstecke.

St. Andreasberg, den 16. 4. 56
Lieber Ernst-Günther! Ich freue mich, dass Du so bald etwas von Dir hören ließest. ... Gerne sage ich Dir meine persönliche Meinung über den offenen Abend. Im Großen und Ganzen waren wir doch alle recht beeindruckt, und eine kleine Aufpulverung war für uns bestimmt auch nötig. ... Ich würde mich freuen, wenn Du uns bald wieder besuchen würdest. Herzliche Grüße,  Deine Karin

Erinnerung: 15. – 17. 6. 56 im Harz
Trotz der schon vertrauten Briefe sind wir uns noch etwas fremd. Wir strolchen in der Gegend umher und gehen am Abend tanzen. Auf dem Heimweg erzähle ich dir, dass dies mein erster Tanz seit zwei Jahren war, weil ich so lange um Dietlind getrauert habe. Du willst mehr darüber hören und bist angerührt von meiner Liebe zu Dietlind und ihrem grausamen Tod. Ich merke dir deutlich dein Mitleid an.
Am Sonntag wandern wir durch den aufblühenden Wald, ohne uns sehr an die Wege zu halten. Als wir an einem Hochsitz vorbei kommen, schlage ich vor, hinauf zu klettern. Wir schauen hinaus auf die Gegend, doch ich sehe nur dich, du wunderbares Mädchen, und mir wird immer wärmer ums Herz. Zu gerne würde ich dich küssen, doch ich weiß nicht, ob du schon dazu bereit bist. Und du bist mir zu wertvoll, um dich zu erschrecken und vielleicht zu verlieren. – Du merkst wohl, was in mir vorgeht. Du lächelst mich freundlich an und sagst ganz ruhig: „Komm, lass uns wieder hinab steigen.“ Die Spannung in mir löst sich und ich folge dir, dankbar, dass dein feiner Takt mir die Sache so leicht macht. – Als wir uns abends am Bus verabschieden, gebe ich dir die Hand. Doch du legst auch deine linke noch dazu und drückst sie mir ganz fest. Glücklich wie schon lange nicht mehr fahre ich durch die Nacht nach Berlin zurück.

Berlin, den 18. 6. 56
Liebe Karin, damit Du ruhig schlafen kannst: Ich bin gut angekommen. Kurz vor sieben war ich zu Hause und um acht in der Schule. Doch meine Gedanken waren viel mehr bei Dir als bei elektrischen Maschinen. ... Liebes Mädel, Du wirst gemerkt haben, was jene Tage für mich bedeutet haben: ein langsames Neu-Einfinden in eine Welt, von der ich vor zwei Jahren glaubte, dass ich mich nie wieder hinein finden könnte. Denn wenn ich erwähnte, dass ich Dietlind sehr gern hatte, so ist das außerordentlich schwach ausgedrückt. Ich habe sie geliebt mit meiner ganzen Liebesfähigkeit. Du hast mich von diesem Gefühl befreit, keinen Menschen mehr gern haben zu können. Dafür danke ich Dir von Herzen. Gleichzeitig möchte ich Dich aber bitten, Geduld mit mir zu haben, wenn jetzt einiges in meiner Erinnerung auftaucht, was ich bisher gewaltsam unterdrücken musste, um nicht wahnsinnig zu werden. Ich werde Dir, wenn wir uns gut genug kennen, alles erzählen, was zwischen Dietlind und mir war, weil ich glaube, dass das auch zur Ehrlichkeit zwischen uns gehört. Also noch mal: Hab’ bitte Geduld mit mir. ... Sei von Herzen gegrüßt von  Deinem Ernst-Günther

    Ich ging im Walde so für mich hin 
    und nichts zu suchen, das war mein Sinn.
    Im Schatten sah ich ein Blümchen steh’n,
    wie Sterne leuchtend, wie Augen so schön.
    Ich wollt’ es brechen, da sagt es fein:
    „Soll ich zum Welken gebrochen sein?“
    Ich grub’s mit all seinen Wurzeln aus, 
    zum Garten trug ich’s an meinem Haus.
    Und pflanzt’ es wieder an stillem Ort, 
    nun zweigt es immer und blüht so fort.
          Johann Wolfgang von Goethe

St. Andreasberg, den 21. 6. 56
Lieber Ernst-Günther! Ich denke noch viel an unser gemeinsames Wochenende. Es war wirklich wunderbar für mich, sicher so wie für Dich. Ich mache mir nur Gedanken um Dich. Gewiss, ich kann mir vorstellen, dass Du jetzt viel in Dir zu verarbeiten hast mit dem, was Du mir schriebst von Dietlind. Wenn wir beide Geduld miteinander haben, kann es zwischen uns zu einem schönen neuen Anfang kommen. Wenn es Dich aber befreit, Dir alles vom Herzen zu sprechen, dann will ich Dir gerne helfen. 
Lieber Ernst-Günther, ganz herzliche Grüße von mir,  Deine Karin

Ich muss den Brief immer wieder lesen. Das Wort von dem schönen neuen Anfang zwischen uns ist eine wundervolle Verheißung für mich und zum ersten Mal sehe ich wieder die strahlende Zukunft vor mir, die sich mit Dietlinds Tod so grauenvoll zerschlagen hatte. Dabei wird mir klar, dass wohl vor allem mein Bericht über meine Liebe zu Dietlind und der Schmerz über ihren Tod mir geholfen hat, dir so schnell nahe zu kommen, also hat Dietlind mir in einem letzten Liebesdienst geholfen, dich zu gewinnen. Ich bin ganz sicher, dass du mir eine wunderbare Fortsetzung meiner ersten großen Liebe sein wirst. „Hab Dank, Dietlind“, denke ich, doch bald wird daraus ein heißes Dankgebet an den Herrn, der mich so wunderbar führt.

Berlin, den 24. 6. 56
Liebe Karin, gestern Abend abends war ich zu einem Fest von Peters Klasse geladen. Ich bin seit Jahren nicht mehr so fröhlich und unbeschwert gewesen. Wer daran Schuld ist? Du! Seit dem gemeinsamen Wochenende sieht die Welt ganz anders aus. ... Und da das nun einmal ausgesprochen ist, kann ich auch das andere sagen, dass ich Dich sehr lieb gewonnen habe und hoffe und bete, es möge zwischen uns eine Liebe wachsen, die das Leben überdauert. Deshalb aber meinte ich, es gehöre zur Ehrlichkeit, wenn wir uns ganz kennen lernen, auch mit dem, was gewesen ist. ... Nun sei Du von Herzen gegrüßt von  Deinem Ernst-Günther

St. Andreasberg, den 29. 6. 56
Lieber Ernst-Günther! ... Ich freue mich auch, dass ich Dir so viel bedeuten kann, dass Du wieder froh und frei bist und in die richtigen Gleise zurück findest. Mir bedeutest Du sehr viel. Du hast mir schon einiges zu denken gegeben und ich bin dankbar, dass ich Dich überhaupt kennen gelernt habe.
Ich sende Dir ganz herzliche Grüße,  Deine Karin

Erinnerung: 17. – 18. 8. 56 im Harz
Am Samstag streifen wir durch Berg und Wald. Als wir auf den Hohen Klippen stehen und ins Land hinaus schauen, nehme ich meinen ganzen Mut zusammen, eigentlich müsstest du mein Herzklopfen hören. Ich spreche dich auf den Film „Ich denke oft an Piroschka“ an, den ich dir empfohlen habe. Ja, du hast ihn gesehen. Ob du die Szene erinnern kannst, wo die beiden zusammen am Bahndamm liegen, nachdem Piroschka den Zug zum Halten gebracht hatte? Du lachst, ich glaube, du hast schon begriffen, was ich will. Ob Du diese Szene schön gefunden hast, frage ich noch. Mit leuchtenden Augen sagst du „ja“. Da nehme ich dich in die Arme und küsse dich. Wie lange habe ich mich schon danach gesehnt, und jetzt merke ich voller Freude, dass du es auch genießt. Mit geschlossenen Augen und beseligtem Gesicht umarmst auch du mich, als unsere Zungen miteinander spielen. Du bist ja für mich schon lange das schönste Mädchen auf der Welt, aber nie bist Du schöner als in diesem Augenblick. 
Wie oft wir uns an diesem Tag noch geküsst haben, weiß ich nicht, aber es war sehr oft. Ich glaube, du hast es auch gewollt, dass wir diesmal so nahe zueinander finden. Und als wir uns abends zum Abschied noch einmal innig küssen, wissen wir beide, dass wir uns nie wieder loslassen werden.

Hamburg, den 19. 8. 56
Mein liebes Mädel, nun bin ich glücklich in Hamburg gelandet. Ich habe während der Fahrt ständig an Dich gedacht. Weißt Du, die Tage bei Dir waren wunderschön. Lass mich Dir noch einmal von Herzen danken für alles, was Du mir gegeben hast. ... 
Sei in Liebe von Herzen gegrüßt und in Gedanken tausend Mal geküsst von  Deinem Ernst-Günther

St. Andreasberg, den 21. 8. 56
Lieber Ernst-Günther! ... Ich denke noch viel an die letzten Tage mit Dir und freue mich schon sehr darauf, dass wir uns bald wieder sehen können. ... Das eine muss ich Dir noch sagen: Ich freue mich so sehr, dass ich Dich habe und dass ich Dich sehr lieb gewonnen habe. Ich habe mich zuerst dagegen gesträubt, obwohl ich das schon ahnte, denn ich wollte allein sein. Aber Du zwingst mich einfach dazu, Dich gerne zu haben, und ich bin nun ganz das Gegenteil als unglücklich darüber. Ich freue mich riesig über Deine Briefe und zähle schon die Tage, bis Du endlich wieder bei mir bist. ...
Sei von Herzen gegrüßt und geküsst (in Gedanken),  Deine Karin

Erinnerung: 7. – 9. 9. 56 in Hamburg
Welch eine Freude, dich auf dem Bahnsteig in die Arme zu nehmen und deine Lippen auf den meinen zu spüren! Ich habe kaum Gelegenheit, dir meinen Rosenstrauß zu überreichen. … Spät bringe ich dich zur Pension, wo wir uns wieder nach langen Küssen voneinander los reißen müssen. Ich kann lange nicht einschlafen vor Glück.
Für mich ist es etwas großes, mit dir als Dame das Theater zu besuchen, wo wir bisher nur im Räuberzivil durch die Wälder gestreift sind. Anschließend gehen wir ins benachbarte Boccaccio zum Tanzen. Ich genieße den Tanz mit dir sehr und habe das Gefühl, dass es bei dir nicht anders ist. Wir sind beide so aufgedreht, dass wir nach Hause laufen wollen. Immer wieder bleiben wir stehen oder setzen uns auf eine Bank, um uns zu küssen, während die Alster vor uns plätschert. Schließlich kann ich mich nicht mehr zurück halten und lege meine Hand in den Ausschnitt deines leichten Sommerkleides. Als du es mir nicht verwehrst, geht meine Hand weiter, bis ich die zarte Haut deiner Brust fühle und streichle. Erstaunt registriere ich, wie die weiche Spitze unter meiner zärtlichen Berührung fest wird. Wie glücklich bin ich, als du mir mit immer heftigeren Küssen zeigst, dass dir diese Liebkosung Freude macht. Das ist der schönste Augenblick meines bisherigen Lebens!

Hamburg, den 13. 9. 56
Geliebtes Mädel, hab herzlichen Dank für Deine liebe Karte. Ja, es waren zwei herrliche Tage; doch gebührt mir kein Dank dafür, denn ich habe ja ebenso viel oder sogar noch mehr Freude aufgenommen. Ich glaube, wenn wir Dank auszusprechen haben – und das ist ja in überreichlichem Maße der Fall – dann vor allem im Gebet. Dank für die schönen Stunden, die wir immer wieder erleben, Dank, dass wir uns gefunden haben und Bitte: für unsere Zukunft, dass unser weiteres Miteinander gesegnet wird; und für den anderen, dass er vor Gefahr an Leib und Seele beschirmt werde. Doch zusätzlich will ich Dir von Herzen danken, dass Du durch Dein Kommen und Deine Liebe diese beiden schönen Tage möglich gemacht hast.  … Hier in Hamburg gingst Du zum ersten Mal aus Deiner vielleicht unbewussten Reserve heraus und zeigtest Dich völlig, wie Du bist. Das war das schönste Erlebnis und die größte Freude für mich. Denn wir haben uns ineinander verliebt, ohne uns näher zu kennen. Jetzt sehe ich mit großer Freude, dass dieses Vertrauen berechtigt war. Doch genug der Theorie. Ich habe Dich von Herzen gern, glaube von Dir das gleiche und wir sind froh miteinander – was wollen wir mehr! ... Meine liebe Karin, ich wünsche Dir noch viel Freude bei Deinem Kursus und sei herzlich gegrüßt und geküsst von  Deinem Ernst-Günther

Erinnerung: 5. – 7. 10. 56 im Harz
Als ob wir uns schon Jahre nicht gesehen hätten, drücken wir uns lange Zeit aneinander und küssen uns, jeder glücklich, den anderen wieder zu sehen und – nicht weniger wichtig – zu fühlen. Neben langen Wanderungen durch den herbstlich werdenden Harz habe ich bei diesem Treffen viel zu erzählen von dem aufregenden letzten Teil meiner Ferienarbeit in Hamburg, in dem ich vielleicht schon eine Linie für unsere gemeinsame Zukunft gelegt habe. Denn dass wir miteinander in die Zukunft gehen wollen, darüber sind wir uns jetzt ganz sicher. Wir versprechen uns Liebe und Treue für ein gemeinsames Leben und sind uns einig, unser Versprechen bald durch eine offizielle Verlobung auch nach außen zu zeigen.

Berlin, den 13. 10. 56
Geliebtes Mädel, nun ist es schon wieder eine Woche her, dass wir Hand in Hand durch den nassen Wald zogen und immer wieder die Lippen aufeinander pressten, um uns immer wieder unsere Liebe zu beweisen. Ich bin älter geworden in der kurzen Zeit, da zwischen uns Sehnsucht und Vertrauen gewachsen ist, und Dir ist es, glaube ich, nicht anders gegangen. Wir haben Pläne geschmiedet, wir haben uns entschlossen, bald Ringe zu tauschen und sind froh und dankbar dafür. Wir werden immer weiter so unsere Wege ziehen, uns des Sonnenscheins freuen und Regen und Sturm hinnehmen, wie sie kommen. Wir werden das Hand in Hand tun oder auch aneinander geklammert, damit uns der Sturm nicht voneinander weg reißt. Wir werden lachen und fröhlich sein oder auch die Zähne zusammen beißen. Aber eines werden wir niemals: aufhören, uns zu lieben, uns umeinander zu sorgen, füreinander zu beten, uns miteinander zu freuen und gemeinsam zu tragen, was zu tragen ist. Wir werden einst, wenn wir reif genug dazu sind, das größte Geheimnis der Liebe erleben und es wird uns zu noch größerer Treue und Verbundenheit führen. Und wir werden dann, wenn dies Leben erfüllt ist, eingehen in das Reich, das noch größer und schöner ist als unsere Zeit jetzt, selbst im Beieinander liebender Herzen.
Ich weiß nicht, ob Du Dich am Sternhimmel auskennst. Es gibt dort in der Verlängerung der Linie von der Deichsel des großen Wagens über den Polarstern hinweg ein Sternbild namens Cassiopeia, das die Form eines W hat. Immer wenn ich dieses Bild sehe, denke ich an Dich oder besser an uns, denn dieses W verkörpert mir das „Wir“, das langsame Einswerden von uns beiden. Unsere Gedanken sind jetzt schon immer beieinander, wenn auch vorläufig noch wieder und wieder Stunden der Trennung schlagen. ... Meine liebe Karin, sei von Herzen geküsst von  Deinem Ernst-Günther

Berlin, den 21. 10. 56                                       W
Meine liebe Karin, wenn Du jetzt Geburtstag hast, so wird Dir von vielen Seiten gratuliert werden. Man wird Dir Erfolg und Glück wünschen, man wird vielleicht sogar sagen, Du könntest stolz sein, dass Du jetzt volljährig bist. Diejenigen, die sich nicht so viel Mühe machen, werden wenigstens eine vorgedruckte Karte senden. Auf jeden Fall werden alle überzeugt sein, Dir mit ihren Glückwünschen und Gratulationen eine Freude gemacht zu haben.
Im Allgemeinen werden die Geburtstage ja auch unter diesem Gesichtswinkel gefeiert. Eines wird meist vergessen: Dank. Dank Gott gegenüber, dass er einen bis zu diesem Punkt gnädig und letztlich voller Liebe geführt hat. Daraus leitet sich dann der Dank den Menschen gegenüber ab, die als Gottes Werkzeuge zwar, aber doch nach eigener Entscheidung Hilfestellung geleistet haben, dass dieser Punkt erreicht wurde. Gott danken wir zuweilen in einer Stunde der Besinnung. Danken wir auch jenen Menschen, z. B. den Eltern? Wenn der Geburtstag ein Ehrentag ist, dann doch vor allem für sie!
Wenn man diese Dinge bedenkt, kann man sich auch einiges wünschen lassen zu dem neu beginnenden Lebensjahr. Und das will ich jetzt tun. Glück und Reichtum wünsche ich Dir nicht, Erfolg nur bedingt. Wer Gottes Führung anerkennt, kann kein „Glück“ oder „Pech“ bejahen. Reichtum ist eine sehr zweifelhafte Sache. Leute, die ihn nicht haben, sind besser dran, weil ihnen die Überlegung erspart bleibt, ihn verantwortlich zu gebrauchen. Und Erfolg? Worin? Doch höchstens in der Erfüllung des Lebensauftrages, der auf irgend eine Art jedem gestellt ist. Diese Art von Erfolg können wir uns allerdings immer wieder nur wünschen. So will ich es auch tun.
Ich wünsche Dir weiter, dass in Deinem weiteren Leben eine gute Portion Freude neben all dem Schweren vorhanden ist, das es auf jeden Fall gibt. Möge es so viel Freude sein, dass Du immer noch anderen abgeben und sie dadurch ebenfalls froh machen kannst.
Alsdann wünsche ich Dir Erkenntnis Gottes und seines Willens, wie auch seiner Christusbotschaft. Ich schreibe das nicht, weil ich mir darüber schon völlig klar wäre, sondern weil jeder von uns diese Erkenntnis bitter nötig hat. Das spüre ich ja am eigenen Leibe, dieses verzweifelte Suchen und nur stückweise Finden.
Aber der wichtigste Wunsch ist Liebe. Einmal, dass Dir immer viel Liebe gegeben wird, wie sie jeder Mensch zum Leben braucht. Ich hoffe, dass der Hauptanteil hier von mir kommen wird. Zum anderen aber, dass auch Du immer noch mehr die Fähigkeit gewinnst, Liebe auszustrahlen. Denn Menschen, die das können, gibt es sehr wenige, aber sie werden so dringend gebraucht. „Was hilft es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und hätte der Liebe nicht!“
Es gibt noch viel zu wünschen, ich will nur noch einen Wunsch aussprechen, der überdies reichlich egoistisch ist: dass wir beide uns immer näher kommen und uns gegenseitig höher führen, dass stets Ehrlichkeit und Vertrauen zwischen uns selbstverständlich ist und dass Liebe und Treue ständig nur größer und weiter werden. Dabei möchte ich Dich an die Cassiopeia erinnern, das große „Wir“, auf das unsere beiden „Ich’s“ zusteuern. Und wenn wir jetzt noch warten müssen, so steht doch dieses „Wir“ als Ziel vor jedem von uns, das täglich näher rückt. Es rückt genau so näher, wie die Stunden des Wiedersehens und des Abschieds näher rücken. So sehen wir uns schon am Ende dieser Woche wieder, und die drei Wochen, die dazwischen lagen, sind wie im Fluge vergangen. Nun wollen wir sehen, dass diese Tage wieder schön werden und wir sie recht nutzen. 
Sei noch recht herzlich bedankt für Deinen lieben Brief. Ich werde ihn mündlich beantworten. Und nun, geliebtes Mädel, sei von Herzen gegrüßt und in Liebe geküsst – in ein paar Tagen nicht mehr nur brieflich – von   Deinem Ernst-Günther

Erinnerung: 26. – 28. 10. 56 im Harz
Unsere Liebe ist reifer und wärmer geworden aus der Sicherheit heraus, dass der andere unbedingt für einen da ist. Trotzdem versichern wir uns immer wieder, wie sehr wir uns lieben, wenn wir nicht gerade die Lippen aufeinander drücken und die Zungen abwechselnd in unseren Mündern spielen lassen. Immer wieder muss ich dich dabei anschauen, so schön ist dein edles Gesicht mit diesem beseligten Schimmer der Liebe und des Glücks. In diesen Augenblicken gibt es doch Glück, auch bei mir! ... Neben langen Streifzügen durch den Wald feiern wir deinen Geburtstag nach. Am Abend zeige ich dir die Cassiopeia, unser großes „Wir“. Unter fortwährenden Küssen annektieren wir dieses Symbol für unser gemeinsames Leben. Es wird auch unsere Ringe zieren. Wir vereinbaren unsere Verlobungsfeier für die Jahreswende bei euch in St. Andreasberg. Als ich dir sage, dass ich bei deinen Eltern schriftlich um deine Hand anhalten werde, bekomme ich dein klingendes Lachen zu hören, das ich so liebe. Ich bin ja sonst nicht für Konventionen dieser Art, aber ich glaube, deine Eltern werden sich darüber freuen.

Berlin, den 29. 10. 56                                      W
... Karin, es war wieder wunderschön bei Dir. Ich habe auf der ganzen Rückfahrt an Dich gedacht. Aber alle Gedanken münden letztlich immer wieder in den gefalteten Händen: Dank und Bitte. Dank für alles Schöne, Bitte für Dich und für uns beide. Und das Wissen, dass Du genau so für mich die Hände faltest, ist eine große Hilfe in dem, was täglich auf mich einstürmt. Allerdings gehört zu allen Bitten immer das „Dein Wille geschehe!“, natürlich aus dem Vertrauen heraus, dass dieser Wille doch das Beste ist, was geschehen kann, wenn es uns auch seltsam oder hart erscheint. Es ist doch so, dass man jeden Augenblick damit rechnen muss, hier abgerufen zu werden oder einen geliebten Menschen zu verlieren. Deshalb hat man einerseits die Pflicht, seine persönlichen (auch gewissensmäßigen) Angelegenheiten immer völlig in Ordnung zu halten – und das hat nichts mit den „Grillen“ zu tun – und zum anderen muss man darauf vorbereitet sein, plötzlich allein in der Welt zu stehen. Du weißt, ich habe das schon erlebt. Gerade daher habe ich diese Einstellung zum Tode gewonnen, der nicht grausam zuschlägt (wenn das auch der erste Anschein ist), sondern aus Gottes gutem Plan heraus seinen Auftrag erfüllt. Ich sagte einmal zu Dir, wenn mir etwas zustoße, solltest Du daran nicht zu Grunde gehen. Ich bitte Dich, dann mit allen Kräften an den Aufgaben des Lebens zu bleiben. Sei es der Dienst an anderen, sei es später die Erziehung der Kinder, es gibt immer genug zu tun, wodurch zum Trübsal blasen keine Zeit und zum Hadern keine Veranlassung ist. Das musst Du mir versprechen. Meine liebe Karin, sei in Liebe gegrüßt und heiß geküsst von   Deinem Ernst- Günther

Erinnerung: 1. – 2. 12. 56 in Berlin
Die Begrüßungsküsse können wir mit unserer ganzen Leidenschaft erst in meinem Zimmer austauschen. Doch viel Zeit bleibt uns nicht, die älteren Pfadfinder veranstalten einen Tanzabend mit ihren Freundinnen und wir können endlich wieder ausgiebig miteinander tanzen. Leider muss ich dich am Abend bei deiner Tante abgeben. Als Bettlektüre schenke ich dir den „Südkurier“ von St. Exupery. Ich würde dir viel lieber sein schönstes Buch, den „Kleinen Prinz“ geben, das ich Dietlind kurz vor ihrem Tode geschenkt und von ihrer Mutter zurück erbeten habe. Aber aus einer dunklen Angst heraus wage ich das nicht.
Am Sonntag treffen wir uns an der Ernst-Moritz-Arndt-Kirche. Als wir uns vor der Tür küssen, ernten wir erstaunte Blicke von einigen, die mich kennen. Der Gemeindeklatsch hat anscheinend total versagt. Das setzt sich beim Abendmahl fort, als wir gemeinsam zum Altar kommen und Brot und Wein Hand in Hand entgegen nehmen. Danach streifen wir durch den Grunewald und sprechen über unsere gemeinsame Zukunft, die wir ganz klar vor uns sehen. Später in meinem Zimmer küssen und streicheln uns mit unserer ganzen Leidenschaft. Als ich deine Brust streichele, möchte ich sie gerne anzuschauen. Behutsam knöpfte ich dir die Bluse auf und schaue dabei in dein Gesicht, doch du lächelst nur. Mühsam öffne ich den BH, dann endlich ist deine herrliche Brust frei. Ich kann dieses Wunder gar nicht genug anschauen, die zierlichen Kugeln mit den roten Warzenhöfen und den Himbeerspitzen in der Mitte. „Deine zwei Brüste sind wie zwei junge Rehzwillinge, die unter den Rosen weiden“, zitierte ich ergriffen das Hohelied Salomos, und ein Anflug von Röte läuft über dein Gesicht, dann küsst du mich lächelnd. Sachte setzte ich auf jede Himbeere einen zarten Kuss. Nach vielen heißen Abschiedsküssen ist es schon wieder Zeit, dich zu deiner Tante bringen, wo du nachts um 4 Uhr abgeholt werden sollst. Doch ich habe gespürt, dass auch dieses kurze Treffen unsere Gemeinschaft für dich ebenso wie für mich wieder ein Stück enger gemacht hat. Hab Dank, Geliebte!

Berlin, den 8. 12. 56                                       W
Geliebtes Mädel, jetzt ist es schon wieder eine Woche her, dass Du hier warst und wir dieses herrliche Wochenende miteinander verlebten. Wenn ich jetzt einmal zur Ruhe komme, überfällt mich Erinnerung und Sehnsucht mit solcher Macht, dass ich nicht weiß, was ich anstellen soll. Das sind die Augenblicke, in denen ich einfach mit Dir zusammen sein möchte, weiter gar nichts, mit Dir sprechen, auch Dich küssen. Es braucht gar nicht so leidenschaftlich zu sein, wie wenn wir uns nur jeden Monat sehen, sondern nur so, als Beweis, dass wir beieinander sind. Ich werde, wenn ich den Brief zum Kasten bringe, noch ein wenig zur Krummen Lanke hinunter gehen. Der dunkle Wald und der ruhige See haben mir schon immer gute Dienste getan, wenn dies unbegreifliche und doch sehr bekannte Sehnen mit mir durchgehen wollte.... Meine liebe Karin, sei herzlich gegrüßt und geküsst,  Dein Ernst-Günther

Erinnerung: 16. 12. 56 in Berlin
... Mein linker Unterschenkel ist bis zum Scharnier in den schmalen Spalt zwischen Tür und Wagenkante geschlagen worden. Ich bin hell wach. Als erstes schalte ich die Zündung aus, damit auslaufendes Benzin sich nicht entzünden kann. Ich habe keine Schmerzen, kann nur mein linkes Bein nicht bewegen. Als ich es befühle, spüre ich Knochensplitter und Blut zwischen dem verbogenen Blech. ... 
Auf dem Wagen vor dem Operationssaal bricht meine Wachheit und Sicherheit zusammen wie ein Kartenhaus. Plötzlich wird mir klar, dass mein Bein so kaputt ist, dass ich nie wieder richtig laufen kann. Was wirst du dazu sagen? Wirst du mich als Krüppel akzeptieren? Eine furchtbare Ungewissheit kommt über mich. Soll ich auch dich wunderbaren Menschen wieder verlieren? Schwarze Verzweiflung übermannt mich, ich beginne zu weinen. - „Warum weinst du?“, fragt Rolf. Da kommt noch einmal die Entschlossenheit in mir hoch: Niemand soll wissen, dass ich an deiner Liebe zweifle. „Nur so“, antworte ich und bitte ihn, dich offen über den Unfall und meinen Zustand zu informieren und um dein Kommen zu bitten.

Zwei Tage später reiße ich dein Telegramm mit zitternden Händen auf: Als ich deine frohe Botschaft lese, geht in meinem Herzen die Sonne auf. Diese sechs Worte auf dem Tickerstreifen heben endgültig jenes andere, furchtbare Telegramm auf, das mir vor zweieinhalb Jahren Dietlinds Tod kündete:

St. Andreasberg, 18. 12. 56, 15:39
= SEI TAPFER KOMME SONNABEND = KUSS KARIN +

1957                                                                                                                                    Literaturverzeichnis            Seitenanfang

Unsere Idee, von Silvester in die Verlobung hinein zu feiern, müssen wir natürlich begraben. Dafür bekommen wir am Neujahr Vormittag einen eigenen Raum, in den mein Bett geschoben wird. Viele Kameraden sind gekommen und haben Geschenke mitgebracht, als wir uns vor allen Gästen ein Leben miteinander versprechen und gegenseitig die Ringe aufsetzen. Dass wir uns küssen, wird von den anderen lächelnd akzeptiert, wie sie uns auch herzlich gratulieren. Ihr habt einen Kuchen gebacken, mit dem wir unsere Gäste anschließend bewirten. Die im Harz geplante Feier hätte nicht schöner sein können.

St. Andreasberg, den 3. 1. 57                              W
Mein lieber Schatz! Für heute nur einen kurzen Gruß, dass ich gestern gegen 16 Uhr gut zu Hause angekommen bin. Ich habe mir einen Schlitten geliehen und bin nach Hause gerodelt, damit ich den ollen Koffer nicht zu schleppen brauchte. ... 
Meine Schwester ist nun nicht mehr hier, aber ich vermisse sie gar nicht so. Das mag daran liegen, dass ich noch nicht ganz hier bin, sondern vielmehr im Krankenhaus Waldfrieden, Zimmer 10, bei Ernst-Günther Tietze. ... 
So, mein Liebster, für heute erst mal Schluss. Wenn Du nicht so viel schreiben kannst, dann denke umso öfter an mich. Sei schön brav, es grüßt und küsst Dich herzlich  Deine Karin

Berlin, den 5. 1. 57                                            W
Geliebte Karin, nun bist Du schon wieder vier Tage fort von hier. Es waren herrliche Tage mit Dir, obwohl wir gar nichts anstellen konnten. Aber einfach Dein hier sein half mir sehr. Jetzt ist es so schwer, immer noch wieder weiter zu warten. Die Schmerzen machen mich allmählich verrückt, obwohl ich jede Nacht vier Spritzen bekomme. Vorgestern hätte ich am liebsten geheult, wenn ich alleine gewesen wäre. Langsam komme ich mit den Nerven immer weiter runter. Da ist es schön, dass ich morgen in ein Einzelzimmer komme. O, Karin, hoffentlich halte ich das durch! – So jetzt habe ich Dir genug vorgejammert, entschuldige bitte. Schließlich gibt es noch einen Herrgott, der uns zwar allerlei aufpackt, aber nicht mehr, als man tragen kann. ... 
Geliebte, sei von ganzem Herzen gegrüßt und geküsst von  Deinem Ernst-Günther

Erinnerung: 11. 1. 57 in Berlin
Nach genauer Untersuchung teilt mir der Arzt mit, dass die halbe verbliebene Schlagader meinen Fuß nicht versorgt, er muss Montag amputiert werden. Das ist für uns beide eine so entscheidende Entwicklung, dass ich dich im Büro anrufe, um dich zu informieren. Du bist gar nicht schockiert, sondern tröstest mich, das sei doch viel besser, als mit einem kaputten Fuß zu leben, der nie richtig zu gebrauchen ist. Deine Worte beruhigen mich ungemein, denn wieder sehe ich: Was auch geschieht, du liebst mich und stehst zu mir. Über das Wochenende kann ich mich mit dem Gedanken vertraut machen und immer mehr finde ich deine Worte richtig. Mit deiner Hilfe werde ich das Leben auch mit einem Fuß meistern. Als Dank nehme ich mir fest vor, dir nie damit zur Last zu fallen.
Am Dienstag rufst du mich an. Ich bin noch sehr schwach, aber es ist unwahrscheinlich schön, deine Stimme zu hören und deine Sorge um mich zu spüren. Hab Dank, Geliebte!

Berlin, den 17. 1. 57                                        W
Geliebte, das war eine böse Überraschung, als ich Freitag anrief und Dir den Bescheid gab. Aber ich denke dann immer: lieber gleich raus mit der Sprache, wie ich auch immer gleich alles wissen muss. Und mir war dann ganz leicht, weil jetzt endlich eine Entscheidung da war, die das ewige Warten beendete. Nun ja, ob Dir so leicht war, weiß ich nicht, denn es ist ja doch eine erhebliche Umstellung. Doch Du hast mich wunderbar getröstet. Nach der Operation kam mir ganz klar zum Bewusstsein, dass das olle Bein nun ab ist. Ich soll dauernd gejammert haben: „Meine arme Braut, die muss jetzt einen Krüppel heiraten!“. An dem Tag war ich kaum bei Besinnung ...
Auch am Dienstag lag ich den halben Tag mit geschlossenen Augen. Doch gestern war es schon viel besser, ich fühlte mich recht frisch und hatte auch kaum noch Schmerzen. Na, und heute bin ich schon wieder ganz obenauf. Es zwackt bloß immer einer in den Fuß, der nicht mehr da ist, das ist gemein. Wenn Du dann erst hier bist, das wird so schön, dass es gar nicht vorzustellen ist. Da werden wir die Zeit wieder recht ausnutzen. ... Mädel, lass Dich von Herzen küssen von  Deinem Ernst-Günther

Erinnerung: 2. – 3. 2. 57 in Berlin
Dir fallen Steine vom Herzen, als ich dich stehend begrüße und sogar auf Krücken mit dir langsam durch den schönen Garten der Klinik wandern kann. - Wir beide sind froh, dass ich mir die Zusatzversicherung habe aufschwatzen lassen, die mein Einzelzimmer bezahlt. So können wir ganz für uns sein an diesen beiden Tagen. Es ist so herrlich, dich in den Armen zu halten, ganz eng an mich zu drücken und unser beider Leidenschaft in unseren Küssen zu spüren. Und es ist ebenso herrlich, deine langen, weichen Haare und deine zarte Haut zu streicheln, wie auch deine zärtlichen Finger mich liebkosen. Zwei Monate haben wir diese innigen Berührungen entbehrt, jetzt holen wir alles nach. - Doch wir versprechen uns, mit dem vollkommenen Einswerden zu warten, bis ich uns eine sichere Existenz gewähren kann. Das dauert noch mindestens ein halbes Jahr, und im Augenblick fühle ich mich ohnehin noch nicht reif dafür, wenn ich auch schon lange davon träume. Daraus entsteht ein langes Gespräch über unsere gemeinsame Zukunft, die ja durch meinen Leichtsinn (ich finde es großartig, dass du nie ein Wort in dieser Richtung sagst) mit vielen Fragezeichen behaftet ist. Es ist ein großer Trost für mich, dass du in keiner Weise an dieser Zukunft zweifelst. Vollkommen sicher machst du mir klar, dass du mir bei allen Schwierigkeiten, die ich vielleicht haben werde, unbedingt zur Seite stehen wirst. Das ist fast zu groß für mich, und immer wieder muss ich dich küssen, um dir zu danken. …
Wie im Fluge vergehen die beiden Tage, doch sie haben mir die letzten Ängste vor der Zukunft zerstreut und die Gewissheit gebracht, dass ich mich unbedingt auf dich verlassen kann. Natürlich bin ich traurig, als du mich am Sonntag Abend wieder verlassen musst und wir das letzte Mal unsere Lippen aufeinander drücken, aber ich bin auch von großer Ruhe erfüllt.

Berlin, den 4. 2. 57                                                W
Geliebte, es war ja so herrlich, dass Du die zwei Tage hier warst. Ich zehre immer noch von der Erinnerung an die wunderschönen Stunden. Immer wieder denke ich zurück an die schöne Zeit, die wir trotz der Krankenhausatmosphäre miteinander hatten. Wie dankbar müssen wir sein, dass wir uns gefunden haben und lieben können. Und ich hoffe nur, dass Dir meine Liebe auch immer wieder etwas gibt, wo ich so sehr viel von Dir habe. ... Sonst geht es mir prima. Ich habe heute ¾ Stunden im Garten in der Sonne gesessen und bin eine ganze Menge gelaufen.
Und wie bist Du nach Hause gekommen? Warst Du sehr müde heute? Ich denke immer wieder und bei jeder Gelegenheit an Dich. Von Herz zu Herz viele liebe Küsse,   Dein Ernst-Günther

Erinnerung: 2. – 22. 3. 57 in Berlin und im Harz
Du hast eine Einladung deiner Eltern mitgebracht, dass ich mit dir drei Wochen in den Harz fahre, und Sonntag Abend geht es los. Dort hast du mir dein Zimmer abgetreten und schläfst irgendwo im Haus. Sowohl die deutschen Strafgesetze als auch die Moralvorstellungen jener Zeit gestatten nicht das Schlafen Verlobter in einem Zimmer, weil sich keiner dieser Spießer vorstellen kann, dass es nicht zum „miteinander“ kommt. Ich glaube, ich hätte ohnehin darauf verzichtet, um dich nicht ins Gerede zu bringen.
Am Abend küssen wir uns wieder an der dunklen Ecke, wo ich dir im letzten Jahr die Cassiopeia gezeigt habe, doch dann genügen uns die Küsse im Wald nicht mehr. Du kommst vom Bad im Nachtanzug zu mir, um mir „gute Nacht“ zu sagen. Natürlich bleibt es nicht dabei, sondern wir küssen uns leidenschaftlich. Du hast nichts dagegen, dass ich deine Pyjamajacke aufknöpfe und deine süßen Himbeeren küsse. Im Vertrauen auf Deine Liebe führe ich deine Hand vorsichtig dorthin, wo du meine Erregung fühlen kannst, die immer über mich kommt, wenn wir uns innig küssen. Du bist nicht erstaunt, sondern fühlst behutsam und verstehst dann, worum ich dich bitte. Obwohl du das bestimmt noch nie getan hast, löst du mir mit zärtlichen Bewegungen die Spannung, während meine Finger deine wunderschöne Brust liebkosen und unsere Zungen sich wild umschlingen. Nun kennst du wieder ein Stück mehr von mir – und auch meine Wildheit im tiefsten Erleben.
Ich weiß ja überhaupt nicht, was du als Frau in solchem Moment fühlst und frage dich. Es ist mir wichtig zu wissen, ob du mir nur einen Gefallen getan hast. Deine Worte „Es war auch für mich schön, denn ich weiß jetzt, wie es dir dabei geht und liebe dich noch mehr“, beruhigen mich ein, mehr sagst du nicht. Erst im Laufe der Zeit begreife ich, dass es nicht deine Art ist, viel über körperliche Liebe zu sprechen. „Liebe redet nicht, sie liebt!“, lese ich später in einem Gedicht, das ich dir schicke.
An den nächsten Abenden findet deine Hand ganz allein ihren Weg, nachdem ich deinen fragenden Blick gerne bestätigt habe. Auch ich möchte dir ja in dieser Art meine Liebe zeigen, doch ich weiß überhaupt nicht, wie ich es anstellen soll. Als ich dir über den Bauch streiche, hältst du meine Hand behutsam fest. Du weißt, dass ich dir nie etwas gegen deinen Willen tun werde.
Wir lesen auch viel gemeinsam an den Abenden. Einer liest vor und der andere freut sich, die Stimme des Geliebten zu hören. Ich habe das Buch „Tausend Brücken“ mit, das Dietlinds Mutter mir nach ihrem Tode geschenkt hat. Ein Elsässer erweckt eine alte Burg zu neuem Leben und gerät dabei zwischen die Fronten des deutschen und französischen Nationalismus. Als dann am letzten Freitag die Abschiedsstunde schlägt, sind wir uns viel näher gekommen und haben uns wesentlich besser kennen gelernt als bei den kurzen Treffen bisher – in allem was wir uns schon gestattet haben. Die Küsse sind kurz, wir haben genügend in ganz anderer Weise getauscht.

Berlin, den 23. 3. 57                                        W
Geliebte, ... ich denke immer wieder an die drei herrlichen Wochen bei Dir zurück und wünsche, sie wären noch nicht vorbei. Da sage noch einer, das Leben sei nicht schön, wo man es sich doch gegenseitig so schön machen kann. Aber nicht mehr lange, dann ist uns diese Möglichkeit für dauernd gegeben und es hängt von uns ab, ob wir sie nutzen und das Beste aus unserem Leben machen. ... Für heute grüße ich Dich, mein liebes (Schäfchen) Schätzchen und küsse Dich wie dort jeden Abend, Dein Ernst-Günther

St. Andreasberg, den 27. 3. 57                             W
Mein Lieber! Habe gestern mit viel Freude Deinen Brief erhalten, herzlichen Dank dafür. ... Mein kleiner lieber Affi (Rache vom Schäfchen), ... wenn ich so an unsere letzte gemeinsame Zeit zurück denke, ist mir, als wenn Du gestern noch hier warst. Ich muss dann erst überlegen, was ich in der Zwischenzeit eigentlich getan habe. ... Mein Bettzipfel zieht. Schatzi! Sei von Herzen gegrüßt und geküsst von   Deiner Karin

Berlin, den 29. 3. 57                                        W
Meine liebe Karin, herzlichen Dank für Deinen lieben Brief. Ich schreibe gleich zurück, so kriegst Du den Brief noch zum Montag. ... Der Amtsarzt sagt, mein Bein sei erst in vier Wochen reif für die Prothese. Das ist blöd, ich dachte, ich werde jetzt bald die elenden Krücken los. Und für einen Schwerbehindertenausweis bin ich nicht beschädigt genug, ich bekomme nur 40 %. Ich habe mich doch gefreut, dass ich nicht so krank bin, wie ich immer dachte. ...
Auch ich bin mit den Gedanken immer noch in St. Andreasberg. Mal streife ich mit Dir zusammen durch die Gegend, mal sitzen wir beieinander und lesen, mal liege ich auch schon im Bett und Du küsst mich zur guten Nacht und mehr. Mädel, es war eine herrliche Zeit, und wenn ich daran denke, dass wir in gar nicht langer Zeit immer beieinander sein werden, alles persönlich besprechen können und uns die Küsse nicht per Federhalter, sondern von Mund zu Mund geben, dann freue ich mich immer wieder. ... Sei herzlich gegrüßt und geküsst von  Deinem Ernst-Günther

Erinnerung: 19. – 22. 4. 57 in Berlin
Du kommst nach Mitternacht und es ist so wunderschön, wieder deine Lippen zu schmecken. Doch nachdem du noch eine Kleinigkeit gegessen hast, sind wir ganz brav und verziehen uns nach heftigen Gute-Nacht-Küssen in unsere getrennten Schlafzimmer.
Sonntag früh Kirchgang. Ich finde, Ostern ist das schönste Fest im christlichen Kalender, noch schöner als Weihnachten. Dieses jubelnde „Christ ist erstanden!“ sagt mir viel mehr. Der auferstandene Christus ist für mich eine Realität, das Kind in der Krippe nur eine Verheißung. Vielleicht spielt auch mit hinein, dass zur Osterzeit der Frühling mit Macht einzieht, Wärme und Freude verheißend. Nach dem Gottesdienst machen wir unseren Osterspaziergang durch den Grunewald. Es ist mir gelungen, ein bisschen Geld zusammen zu kratzen. So kann ich dich zum Essen in die „Fischerhütte“ einladen. Es ist ein Fest für mich, dass du die Einladung annimmst und wir zum ersten Mal gemeinsam in einem gepflegten Restaurant ein Festtagsmenü genießen.
Nach dem Kaffee gehört der Nachmittag uns beiden ganz allein. Bis in den späten Abend zeigen wir uns unsere Liebe durch heiße Küsse und innige Berührungen. Wieder darf ich deine süßen Himbeeren küssen und wundere mich über ihre Empfindlichkeit, während deine zärtlichen Finger sich noch genau erinnern, wo sie mir so wunderbar wohl getan haben.
Dann ist schon wieder die Zeit der Trennung da. Jedem wühlt die Trauer über den bevorstehenden Abschied in der Seele. Als es draußen hupt, müssen wir uns regelrecht voneinander los reißen.

Berlin, den 25. 5. 57                                        W
Liebste, herzlichen Dank für deinen Brief. In zwei Wochen bist Du schon hier und wir werden es uns schön machen. ... Gestern habe ich einen Holzklotz anprobiert, der einmal mein linker Unterschenkel werden soll. Wenn Du kommst, springe ich Dir schon entgegen. Bis dahin viele feurige Küsse von Deinem Ernst-Günther

Mein Herz, ich will dich fragen, was ist die Liebe, sag?
    „Zwei Seelen, ein Gedanke, zwei Herzen und ein Schlag!“
    Woher kommt denn die Liebe? „Sie kommt nicht, sie ist da!“
    Und sprich, wie schwindet Liebe? „Die war’s nicht, der’s geschah!“
    Was ist denn reine Liebe? „Die ihrer selbst vergisst!“
    Und wann ist sie am tiefsten? „Wenn sie am stillsten ist!“
    Wann ist die Lieb’ am reichsten? „Reich ist sie, wenn sie gibt!“
    Und sprich, wie redet Liebe? „Sie redet nicht, sie liebt!“
        Friedrich Halm

Erinnerung: 7. – 10. 6. 57 in Berlin
Es ist herrlich, dich zu sehen, in die Arme zu nehmen und zu küssen. Doch du bist müde und fällst nach ein wenig Essen ins Bett.
Vorsichtig, damit Frau Kroeger nichts hört, schleiche ich am Abend in mein Zimmer und zu dir ins Bett. Du bist gar nicht überrascht, ich glaube fast, du hast mich erwartet. Ganz ruhig lässt du dir den Pyjama ausziehen, du vertraust mir vollkommen. Wir umarmen uns zum ersten Mal ohne störende Kleidung, streicheln und liebkosen uns, es ist wunderbar, die zarte Haut deines blühenden Körpers ganz an meinem zu fühlen. Jetzt verwehrst du es meiner tastenden Hand nicht mehr, deine intimen Geheimnisse zu liebkosen, von denen ich bisher nur aus Büchern weiß. Behutsam führst du meine Finger, und wenn ich dein heftiges Atmen richtig deute, das ganz neu und unbekannt für mich ist, bereite ich auch dir Lust wie du mir. Eng umschlungen küssen wir uns, bis die Erregung abgeklungen ist. Als ich den Kopf auf deine Brust lege, höre ich dein Herz schlagen. So etwas habe ich noch nie gehört, und nun dein Herz, von dem ich weiß, dass du mich darin bewahrst! Das ist überwältigend für mich.
Nach dieser wunderbaren Nacht sind wir froh, keine Besuche machen zu müssen. Da ich schon etwas besser laufen kann, gehen wir zur Krummen Lanke. Ich will ausprobieren, wie ich ohne linken Fuß schwimmen kann, denn die Prothese ist nicht wasserfest. Das Hineinkommen geht mit deiner Hilfe ganz gut, das Schwimmen ist problemlos.

St. Andreasberg, den 12. 6. 57                             W
Mein geliebter Ernst-Günther! Heute nur kurz. Du siehst an der Schrift, dass ich noch nicht ganz klar bin. Auch bin ich mit den Gedanken noch nicht hier, sondern in Berlin bei Dir. Es war wieder so schön. Es sind ja bis jetzt immer nur Stunden des Zusammenseins gewesen, aber für diese Zeit können wir sehr dankbar sein. Ich freue mich sehr auf den Urlaub, da haben wir mehr voneinander. ...
Gestern kam ich hier bei Regenwetter mit Nebel an. Ich habe 12 Stunden gepennt und bin noch nicht ausgeschlafen. ...  Ich bin ja riesig gespannt, was Du mir aus Hamburg zu berichten hast, und vor allem, ob Du bei den HEW angekommen bist. Ich habe dauernd an Dich gedacht. ...Mein lieber Schatz, hoffentlich bekommst Du den Brief noch vor Deiner Abfahrt nach Hamburg. Für heute genug. Es grüßt und küsst Dich herzlichst  Deine Karin

Berlin, den 20. 6. 57                                            W
Geliebte Karin, nun will ich schnell schreiben, damit Du Deinen Sonnenstich los wirst, beim Lesen von Liebesbriefen geht so was noch am ehesten weg. ... Ich wusste gar nicht, dass Du neugierig sein kannst, so bin ich ja nicht alleine diesem Laster verfallen. Der Oberbauleiter bot mir je ein Jahr Konstruktion und Bauleiterassistent an, danach selbstständige Arbeit, Anfangsgehalt 534.- DM. Als ich sagte, dass ich ein Holzbein trage, fiel er fast vom Stuhl. Er hatte das gar nicht bemerkt. Schließlich entschloss er sich, es zu probieren. Ich soll mich gleich nach der Prüfung bewerben und zum 15. 8. anfangen. Ich war sehr froh, als ich die HEW verließ. Ich habe nie bezweifelt, dass ich Arbeit bekommen werde, aber gerade an dieser Stellung liegt mir viel. Und was sonst noch dran hängt! Liebste, ich glaube, wir können Anfang nächsten Jahres heiraten! ... Dich interessiert sicherlich, wie ich laufe. Es geht prima. Lass Dich herzlich küssen von  Deinem Ernst-Günther

St. Andreasberg, den 12. 7. 57                             W
Mein Lieber!  ... Sag mal, wird Dietlinds Mutter nicht traurig sein, wenn Du mich dort als deine Braut vorstellst? Du, heute in 14 Tagen fahren wir los! So langsam fange ich an, zappelig zu werden. ... 
Mein Lieber, Deine große Prüfung ist ja erst Dienstag. Bei mir war Montag immer der 16. 7. Ich drücke dann die Fäuste für Dich, die Daumen sind sicher zu wenig.
Ich muss Dich loben, Du hast wirklich sehr fleißig geschrieben in der ganzen Zeit. Ich dagegen nicht so sehr. Heute wird es auch wieder kurz. Mein Schatz, Schluss, Kuss und sei nicht mehr traurig, dass Du so allein bist. Erstens denke ich ja immer an Dich und zweitens ist es nicht mehr lange bis zum Urlaub, dann sind wir lange zusammen. … Sei herzlich geküsst und abgedrückt von  Deiner Karin

Berlin, den 16. 7. 57                                        W
Geliebte, nur ganz kurz: es ist vollbracht! Ich habe die gewünschte „drei“ erreicht, ohne überhaupt in die mündliche Prüfung gemusst zu haben. Nun ist es so weit, die letzte Klippe vor Hamburg ist umschifft. Dienstag bekomme ich mein Zeugnis, da werde ich gleich die Bewerbung abschicken.
Hab herzlichen Dank für Deinen lieben Brief. Über die Frage mit Dietlinds Mutter habe ich auch schon nachgedacht. Aber erstens lag eine Einladung von ihr vor, Dich dort „vorzuführen“ und zum zweiten ist sie eine gläubige Christin, die sich über das Glück anderer freut. ... Wir wollen nicht das ganze Stück von Landstuhl nach Straßburg laufen, sondern viel mit der Bahn fahren und zwischendurch zwei- bis dreitägige Wanderungen mit Zeltzeug in die Umgebung machen. ...
Mein liebes Kind, bald schreibe ich mehr, bis dahin in Liebe viele Küsse   Dein Ernst-Günther

St. Andreasberg, den 19. 7. 57 (mit Blümchen)            W
Mein lieber Ernst-Günther! Hab herzlichen Dank für Deinen Brief. Vor allem gratuliere ich Dir zum bestandenen Examen. Ich freue mich mächtig, dass Du es geschafft hast. Und ich freue mich jeden Tag mehr auf unseren Urlaub, der immer näher kommt. Deine Hauptprüfung ist mir etwas auf den Magen geschlagen, ich konnte nichts essen, wie komisch von meinem Magen! –
Mein Liebling, sei herzlichst abgedrückt und geküsst (so gut, wie es per Post geht),  Deine Karin

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26. 7. 57 
Jahrelang bin ich auf Fahrt gegangen, es gab kein Reisefieber mehr für mich – und nun ist es wieder da. Kein Wunder, die erste Reise mit Dir liegt vor mir und as Leben mit Dir, das wie ein unbeschriebenes Buch vor mir liegt, ist wirklich ein ganz neues, bisher nie erlebtes. Das ist doch Grund genug zur Aufregung. Ach Liebste, ich freue mich so sehr auf das Zusammensein mit Dir.
Ich stehe am Fenster, als wir aus Berlin hinaus fahren. Trotz der Freude auf das Wiedersehen mit Dir bin ich etwas wehmütig. Sechsundzwanzig Jahre habe ich hier gelebt und diese Stadt lieb gewonnen.

28. 7. 57
Ich brauche Dich für einen Weg, den ich jetzt nicht mehr allein gehen will: zu Dietlinds Grab. Das Andenken an sie, das mir zu einer schönen Erinnerung geworden ist, darf nicht neben Dir stehen, sondern es gehört mitten hinein zu uns beiden. Du hast sie nie kennen gelernt, aber erst wenn sie auch Dir Freundin gewesen sein könnte, stehst Du richtig zu ihr. Ich bin etwas bange aber dann empfinde ich große Freude, als ich sehe, wie Dir dieser Weg selbstverständlich ist. Wir erstehen einen Strauß rote Gladiolen mit einem weißen Stiel dazwischen. Dass Du sie bezahlst, ist eine Geste, die mich unwahrscheinlich freut. Als Du die Blumen vor das schlichte Holzkreuz stellst, küsse ich Dich, ganz gegen alle Sitte des Friedhofes. Aber ich muss Dir danken, dass Du mir auch hier nahe bist, so nahe, als wären wir nur noch eine Seele. O, Du wunderbares Mädel, immer wieder offenbarst Du wie selbstverständlich ein neues Stück Deiner Größe.

30. 7. 57
Neuwiller-les-Saverne ist ein Dorf zwischen Berg und Rheinebene. Das Hôtel du Cerf scheint uns gut und billig. Wir verlangen zwei Einzelzimmer. Die Wirtin bietet uns ein Doppelzimmer, da sie nicht genug einzelne Betten habe. Ich schaue Dich an und sehe ein Lächeln auf Deinem Gesicht.
Abends ziehst Du Dich ganz unbefangen aus, so dass ich zum ersten Mal deine wundervolle Schönheit im warmen Licht der Lampe bewundern kann. Mir ist, als sehe ich ein Opfer mit an, das du der Liebe bringst. Im Pyjama schlüpfst du zu mir unter die Decke. Behutsam ziehe ich uns aus und wie zu Pfingsten drücken wir unsere Körper aneinander und streicheln uns zärtlich. Doch als du mich intim streicheln willst, halte ich deine Hand zurück. „Liebste“, flüstere ich, „du hast mir diese Liebe schon oft erwiesen, heute könnten wir uns ganz finden, wenn du es auch willst. Du weißt, ich werde dir nie etwas gegen deinen Willen tun.“ Du tust einen kleinen Seufzer und antwortest lächelnd: „Ich will es doch auch schon lange!“
Es gibt Gedanken, die nur abends kommen, andere, über die man nur abends sprechen kann. Aber das tiefste Gespräch wird Vorstufe und Zwischenspiel. Wenn zwei sich ganz nahe sind in großer Liebe, bedarf es keiner Worte. Denn wir fühlen beide das Gleiche, du und ich, weil wir nicht mehr zwei Wesen sind, sondern eines. Kein Dichter hat das Wunder der körperlichen Liebe so wunderbar beschrieben wie Jesus: „Und sie werden sein ein Fleisch“.

31. 7. 57
Als ich aufwache, ist mir, als hätte ich einen wunderschönen Traum gehabt. Hast du mir wirklich das größte Geschenk gegeben, dessen eine Frau fähig ist, ihre Unberührtheit? Ich weiß, dass ich um dich geworben habe, aber ohne deine Zustimmung, dies feine, nur wertvollen Frauen eigene Entgegenkommen wäre ich nie so weit gegangen. Vorsichtig frage ich dich. Doch du küsst mich nur zärtlich, dann singst du leise:

„Guten Morgen, guten Morgen,
    guten Morgen, Sonnenschein!
    Diese Nacht blieb dir verborgen,
    doch du musst nicht traurig sein!“

Unendlich groß ist deine Liebe! Ich habe nie daran gezweifelt, dass ich der erste Mann für dich bin, und dein kurzes Zucken hat mir diese Gewissheit bestätigt. Auch du bist nicht erstaunt, dass ich dies große Erleben noch mit keiner Frau geteilt habe. Lange genießen wir den Morgen. Später, als wir im Garten sitzen und Briefe schreiben, muss ich Dich immer wieder ansehen. Du bist noch dieselbe wie gestern, und trotzdem sehe ich Dich anders, jetzt, da keine Schranke mehr zwischen uns ist. Ist es, weil ich Dich jetzt noch mehr liebe?
Wir wandern mit den Fahrtenklamotten zur Hünenburg. Am Maibächel bauen wir unser Zelt. ... Ich freue mich über die Begeisterung, mit der Du das Fahrtenleben aufnimmst, das Zelten, Kochen am Feuer, das doch alles neu und ungewohnt für Dich ist. Mancher Junge stellt sich ausgesprochen blöd an dabei, aber Dir geht das alles leicht von der Hand. ...
Am Abend sitzen wir am Feuer beim Tschaj. Du sagst nicht viel. ... Als wir leise ein paar Abendlieder zur Klampfe singen, fliegt ein Schmetterling ins Feuer. Da steigt in mir wieder die Frage auf: Wozu dieses Leben mit all seinem Kampf, seinem Jammer, den paar schönen Stunden, wozu dieser ewige, ineinander verzahnte Kreislauf aus Leben und Leid, Freude und Tod? Nun, da der Anstoß zum ernsten Gespräch gegeben ist, erzähle ich Dir, wie ich meinen Weg fand. Vom ersten Versprechen, bei der Versetzung in der Schule ein guter Christ zu werden, bis zu dem Zeitpunkt, als Gott von sich aus mein Versprechen wahr machte, war es ein krummer und oft unverständlicher Weg:

-           die Einladung zur Evangelischen Jugend und die erste Begegnung mit der Bibel und gläubigen jungen Menschen,
-          
die harte aber wirkungsvolle pfadfinderische Erziehung durch Panje nach dem Freitod meiner Mutter und der Ausgleich durch die tiefe Freundschaft mit Bringfried,
-          
die Entscheidung 1953, nach dem ersten totalen Misserfolg den Stamm neu aufzubauen, und die prächtigen Jungen, durch deren Einsatzbereitschaft es so toll gelang,
-          
die Liebe zu Dietlind und ihr Tod, mit Bringfrieds brüderlicher Hilfe und Panjes scheinbar hartem Trost, dass ich nicht um sie trauere, sondern nur um meine unerfüllten Hoffnungen,
-          
die wunderbare Gemeinschaft mit Dir, die mir ein neues frohes Leben schenkt, und die großartige Bestätigung Deiner Liebe nach meinem Unfall bis jetzt zum tiefsten Einswerden.

In all diesem ist Gottes Wirken zu erkennen, durch all dies hat er mich entscheidend geformt. Jetzt werden wir gemeinsam daran gehen, das alte Versprechen zu erfüllen. Und wir falten die Hände und bitten um Liebe zwischen uns beiden, die das Leben lang dauert, und um Segen für den Bund, den wir beide geschlossen haben. Mit diesen Waffen können wir alles meistern, was vor uns steht – und das wird nicht wenig sein. Dann, während das Feuer langsam verglüht, liegen unsere Lippen aufeinander zur stummen Bekräftigung der Worte. Am Himmel steht das große „W“, das Symbol unserer Gemeinschaft.

1. 8. 57
Es gibt Stunden, in denen die Liebe alle Bedenken aufwiegt. Wir wissen, dass wir uns den Beginn unseres gemeinsamen Lebens sehr erschweren können. Sind wir deshalb sträflich leichtsinnig, dass wir uns einander hingeben in die Zeit- und Raumlosigkeit tiefsten Erlebens? Ich fühle jedenfalls weder Bedenken noch Schuld und auch Dir merke ich zum ersten Mal die große Freude an. Sie ist sicher ganz anders als bei mir, aber ich spüre, dass Du alles Hemmende über Bord wirfst und Dich ganz gibst für dieses Einswerden, als wenn Du tief einatmest. Dies zu fühlen, macht mir die Nacht noch schöner und großartiger als die erste. So wenig wie es Worte gibt, solch eine Begegnung zu beschreiben, sind Worte gefunden, Deine Liebe zu beschreiben, Du wunderbare, unbegreifliche Frau!

2. 8. 57
Die alte Abteikirche St. Peter und Paul ist sehenswert. Der älteste Teil, die Gruft, stammt aus dem 8. Jh. Daran ist im 10. Jh. nach Osten eine romanische doppelstöckige Klosterkirche angebaut worden. Der untere Teil ist eine Säulenhalle, der obere zeigt klassischen Basilikastil mit hohem Haupt- und niedrigeren Seitenschiffen. ... An diese Kirche wurden im 12. Jh. über der Gruft nach Westen ein hoher Chor, eine spätromanische Vierung mit hohem Turm und ca. 10 m Langschiff angebaut, wodurch die Kirche ein gleichschenkliges Kreuz bildete. Im 14. Jh. wurde das Langschiff ohne Übergang gotisch erweitert. Der barocke Hauptturm über dem Eingang ist der letzte Anbau. 
Nachmittags fahren wir in die Kreisstadt Saverne. Mutter Teuffel hat uns den Bœuf Noir empfohlen, wo wir ein schönes kleines Zimmer bekommen. Heute siehst Du unsere Verantwortung ganz klar. Es heißt zwar, die Frau kann sich leichter zurück halten, was mit ihrer geringeren Erregungsfähigkeit erklärt wird, doch seit gestern Abend weiß ich, dass das nicht stimmt. Du bist einfach stärker als ich. Was habe ich mir auf meine Willensschulung als Pfadfinder eingebildet, und nun kommst Du als Mädel, das nicht durch solche Schule gegangen ist und beschämst mich. Der Mann kann wohl nur durch die Liebe seiner Frau die Versuchung überwinden, wenn ihn eine andere Frau beeindruckt, und wenn das nicht gelingt, braucht er ihre Vergebung. Du hattest schon davon gehört und es beunruhigt Dich. ... Ich erzähle Dir, dass ich schon lange um den Bestand unserer Liebe die Hände falte. So wird auch dieser Abend zu einem großen Erlebnis, bei dem ich lerne, dass geistige Gemeinschaft durchaus der körperlichen gleichwertig sein kann, wenn sie, wie diese, letzte Tiefen erschließt.

4. 8. 57
Der Gottesdienst ist gemischt deutsch und französisch, dadurch werden die französischen Menschen uns zu geistlichen Brüdern. Seit ich klar denken kann, ist die „Erbfeindschaft“ für mich ebenso absurd wie die Erbsünde und ich habe mich dagegen gewandt, wo es mir möglich war. Dies aber ist mehr: Es reißt die letzten vom Volkstum kommenden Unterschiede nieder. Vor Gott sind wir alle gleich. Vom französischen Abendmahl verstehen wir nichts, trotzdem wird uns im Brot und Wein die Liebe und Vergebung Christi genau so bildhaft wie mit deutschen Worten. Nie habe ich mit Dir zusammen das Abendmahl so bewusst genommen wie nach dieser Woche. Nicht etwa, dass ich mich sündig fühle, nein, ich sehe darin die Bestätigung unserer nun ganz engen Gemeinschaft durch Gott.

8. 8. 57
Wir sind früh im Straßburger Münster. Mönche halten eine Messe im Chorgestühl, ihr mystischer Singsang füllt die in Dämmerlicht gehüllte Kirche. Wir sehen im Innern der Kirche alle Figuren an, die Propheten und Jungfrauen am nördlichen und südlichen Portal der Westfassade, die Pieta, Salomo, Synagoge und Ecclesia am Südportal und die Rose. Dazu den Engelpfeiler im südlichen Querschiff. Auf der Plattform der Westfront erkennen wir die ganze Eleganz der Strebebögen, die den oberen Teil des Langhauses mit dem Dach abfangen. Nur großartige Geister konnten solche Bauwerke schaffen, zwar auch für das Ansehen der Stadt, aber hauptsächlich doch zur Ehre Gottes. Auf der Plattform mit ihrem einzigartigen Blick über die Dächer der Stadt sind wir uns einig: Zu Stein gewordenes Gebet. Der Ingenieur in mir sträubt sich gegen die vielen Verzierungen, aber der großen Harmonie des Ganzen kann auch ich mich nicht verschließen. Die Männer, die hier bauten, sprechen durch Jahrhunderte zu uns, und nach Jahrhunderten würde ihr Werk noch Gültigkeit haben.

9. 8. 57
Mit Regen klingt der Tag aus, während wir still unsere Koffer packen und den letzten Wein miteinander trinken. Und als wir uns zum letzten Mal für lange Zeit eine gute Nacht wünschen, sagst du mir glücklich, dass die herrlichen Nächte unserer Liebe uns nicht belasten werden. Erst aus deiner sichtbaren Erleichterung wird mir klar, wie viel schwieriger für dich schon jetzt ein Kind wäre als für mich. Auch wenn ich dir in jeder Beziehung zur Seite gestanden hätte, der Hauptanteil wäre bei dir geblieben. Wir haben Gott sehr viel zu danken.

10. 8. 57
In der Bahn sind wir schon etwas getrennt voneinander, weil andere neben uns sitzen und ein tieferes Gespräch unmöglich machen. So nehmen wir uns noch einmal das Merianheft vor, denn die Stadt lässt uns noch nicht los. In Göttingen steigst du aus und wir küssen uns zum Abschied. Die herrlichen Tage sind vorbei, aber die Erinnerung wird uns helfen, die Zeit zu überdauern.
Stunden später fährt der Zug in unsere neue Heimat ein. Wieder stehe ich am Fenster und schaue hinaus, diesmal auf die Elbbrücken, den Hafen und die Stadt. Gemeinschaft und Freude, aber wohl auch Schlimmes werden uns hier erwarten. Gemeinsam werden wir stark sein, es zu nehmen. Und ich falte die Hände, um Gott unsere Zukunft in dieser Stadt anzuvertrauen.

St. Andreasberg, den 11. 8. 57 Mein lieber Ernst-Günther!  W
Nun ist der Urlaubstraum zu Ende und wir sehen erwartungsvoll den nächsten Ereignissen entgegen, erst mal wie Du mit Deiner neuen Stellung zurecht kommst und dann, was mit mir wird. Meine Kündigung ist praktisch schon entschieden. Die Fa. Lupo will mich zum 1. 10. einstellen und ich soll das bestätigen. ... Mein Schatz, Schluss für heute. Sei lieb gegrüßt und geküsst von  Deiner Karin

Hamburg, den 12. 8. 57   Geliebte,                       W
... Von unserer Reise habe ich an so viel Schönes zu denken, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Es war einfach herrlich, vom ersten bis zum letzten Tag herrlich und wunderschön. Hab Dank, Geliebte! ... Ich kann die Zeit kaum erwarten, bis wir uns wieder sehen, ja bis wir ganz beieinander sind. Ich bin nach diesen wundervollen gemeinsamen Tagen immer mehr froh, dass wir zueinander gefunden haben. Und ich freue mich auf das, was vor uns liegt, weil wir es bald gemeinsam angehen können. Dadurch wird das Gute schöner und das Böse nicht so schlimm. Sei von ganzem Herzen und in Liebe geküsst von  Deinem Ernst-Günther

Hamburg, den 22. 8. 57 Geliebtes Kind,             W
hab Dank für Deine beiden Briefe. Heute war ich zu Herrn Abel, dem Leiter der HEW-Netzschutzabteilung geladen, der einen Ingenieur sucht. Er schilderte mir ausführlich mein künftiges Arbeitsgebiet mit komplizierten Einrichtungen, die Fehler auf Betriebsmitteln blitzschnell abschalten. Dieser Mann machte einen sehr positiven Eindruck auf mich. Er hat mich durch seine Persönlichkeit beeindruckt, ist noch recht jung und scheint zu wissen, was er will. ...
Geliebtes Herz, nur fünf Wochen dauert es noch, bis Du hier bist, trotzdem kann ich es kaum noch erwarten. Dann fängt eine festliche Zeit an, die nicht wieder aufhört. Jeder Tag wird zum Feiertag werden durch unsere Liebe, wenn er auch sonst noch so widerwärtig sein mag. … 
Mein lieber Schatz, lebe wohl bis zum nächsten Mal, in fünf Wochen bist Du schon hier. Viele herzliche Küsse von Deinem Ernst-Günther

St. Andreasberg, 26. 8. 57 Mein lieber Ernst-Günther               W
... Ich muss mich über mich selbst wundern. Seit ich gekündigt habe, sage ich meinem Chef die Meinung und erlaube mir Dinge, wovor ich früher Scheu hatte.
Wenn ich nur erst in Hamburg wäre und mit Dir sprechen könnte. Ich kann mir das noch gar nicht vorstellen. – Mein Liebling, sei herzlich geküsst von  Deiner Karin

Hamburg, den 27. 8. 57   Liebste,                        W
für Deinen Brief danke ich Dir ganz herzlich. Ich habe schon solche Sehnsucht nach Dir, da ist jeder Brief eine Aufmunterung. Ach, wenn doch diese Wartezeit erst vorbei wäre! Mir kommt es wahrscheinlich auch deshalb so lange vor, weil ich noch nichts zu tun habe. Aber jeder Tag, der vergeht, bringt uns einander näher. Sonntag Nachmittag war Marga fast sechs Stunden bei uns. Dir müssen die Ohren geklungen haben, denn Du warst immer wieder Gesprächsthema. Ich habe beiläufig von unserem Zelten erzähl, da staunte sie. ... 
Dass Du Deinem Chef jetzt sagst, was Dir nicht passt, finde ich ganz toll. Du weißt, ich kann Mädchen nicht leiden, die sich alles gefallen lassen, ohne Muck zu sagen. Und wenn Du es jetzt gelernt hast, wirst Du es auch später nicht vergessen.
Geliebtes Herz, ich nehme Dich beim Pferdeschwanz und küsse Dich herzlich,  Dein Ernst-Günther

St. Andreasberg, 29. 8. 57 Mein lieber Ernst-Günther!  W
Für Deine beiden letzten Briefe herzlichen Dank. Ich war etwas erschrocken, dass Du Marga vom Zelten erzählt hast. Ich hätte das nicht getan, höchstens meiner Schwester. ... 
Mein Schatz, oder lieber Liebster (habe ich heute gelesen, mal eine Abwechslung), sei herzlich geküsst. Beim Pferdeschwanz lasse ich mich nicht nehmen, das ziept. Ich küsse Dich,  Deine Karin

Hamburg, den 1. 9. 57 Mein liebes Mädel,            W
... Entschuldige bitte, dass ich Marga vom Zelten erzählt habe. Ich habe mir gar nichts dabei gedacht, weil Du es Deiner Schwester auch erzählen wolltest, aber schon aus ihrer Reaktion gemerkt, dass es vielleicht nicht richtig war. Ich weiß nicht, welche schmutzigen Fantasien die Leute entwickeln, wenn zwei junge Menschen verschiedenen Geschlechts miteinander zelten. Im Zelt waren wir doch ganz brav, es wäre wohl ziemlich eng und kühl gewesen, und für mich passte es auch nicht zu der besonderen Atmosphäre des Abends am Feuer. Viel gefährlicher sind doch die Doppelbetten in französischen Hotels, die man dort, anders als in unserem moralinsauren Land, ohne Frage nach dem Trauschein bekommt. ...
2. 9. Geliebte, es ist so weit: morgen fange ich an! Ich wurde für monatlich 534,- DM eingestellt, mit Weihnachts- und Urlaubsgeld 14 mal. Die Probezeit läuft bis zum 30. 11. Ach, Mädel, ich bin so froh, dass das Warten vorbei ist, dass ich jetzt auf unser gemeinsames Leben hin arbeiteten kann, dass ich selber auch produktiv sein und Werte schaffen kann. Wenn Du nun erst hier bist, ist alles herrlich und schön. Sei in Liebe geküsst von  Deinem Ernst-Günther

Ab 28. 9. 57
Viele Briefe gehen noch zwischen uns hin und her, bis du in Hamburg eintriffst. Ich stehe auf demselben Bahnsteig, auf dem wir uns vor einem Jahr verabschieden mussten. Was für ein Unterschied der Gefühle! „Herzlich willkommen in unserem gemeinsamen Leben“, will ich sagen, doch vor Freude bekomme ich kein Wort heraus. So drücke ich dich nur ganz fest an mich und du tust das Gleiche, während unsere Zungen miteinander spielen. Wir wissen: Dies ist der Beginn unserer gemeinsamen Zukunft. Nie wieder wollen wir uns trennen. Meinen Rosenstrauß habe ich noch immer in der Hand, endlich kann ich ihn dir geben und freue mich, dass er dir gefällt. ...
Oftmals abends und an jedem Wochenende treffen wir uns jetzt. Manchmal holt der eine den anderen von der Arbeit ab. Wir streifen bei dir durch den Sachsenwald oder bei mir an der Elbe entlang, oder gehen ins Kino. Langeweile gibt es nicht.
Ich sehne mich, dir wieder einmal ganz nahe zu sein. Als ich dich darauf anspreche, erkenne Ich voller Freude, dass zwischen uns diese geheimnisvolle Gedankenbrücke besteht, die es nur zwischen Liebenden gibt. Du hast schon berechnet, dass es am Wochenende 16./17. 11. gefahrlos möglich ist. Wir fahren Freitag gleich nach der Arbeit zu einem Hotel in der Nordheide. Auf dem Anmeldeformular notiere ich „Karin Tietze, geb. Elsholz“. Es ist herrlich für uns, endlich wieder eins werden zu können in der innigsten Gemeinschaft, die Gott uns gegeben hatte! Ungeduldig wie Kinder reißen wir uns die Kleider vom Leibe, als hätten wir nicht zwei herrliche Nächte lang Zeit füreinander. „Gott ist Liebe, in der liebenden Begegnung zweier Menschen ereignet sich Gott.“ habe ich gelesen. Wir fühlen das schon lange. Wenn du Liebe gibst, bist du überirdisch schön, strahlt göttlicher Schein aus dir.
Du schreibst geheimnisvoll eine Postkarte. Als ich wissen will, an wen, sagst du schelmisch: „An meinen Freund.“ Für einen Moment bin ich irritiert, aber dann denke ich daran, wie wunderbar du mir eben noch deine Liebe bewiesen hast und weiß, dass sie du einen Scherz vor hast.

Zwei Tage später habe ich die Karte im Kasten:

Wilsede, den 16. 11. 57   Lieber Ernst-Günther!
Von einem schönen Wochenende in der Lüneburger Heide, das ich mit meinem Verlobten verbracht habe, grüßt Dich herzlich Deine Dich vergessende Karin. Denkst Du noch manchmal an mich? Ich würde mich freuen, wenn wir uns mal wieder sehen würden. Mit tausend Küssen unter Tränen an Dich gedenkend grüßt Dich Karin

Ich antworte sofort, auch auf einer Postkarte:

Hamburg, den 18. 11. 57   Treulose!
Vielen Dank für Deine Karte, ich hoffe, Du hast Dich gut amüsiert mit Deinem Verlobten. Ja, ich denke immer noch an Dich. Komm mir nur unter die Finger, dann werden meine Lippen Dir schon beweisen, wer der bessere Liebhaber ist.
Übrigens habe ich auch ein wunderschönes Wochenende mit meiner Braut in der Heide verbracht. Hab Dank, Geliebte! Ich freue mich auf Mittwoch Abend, wenn ich Dich von der Firma abhole. Bis dahin viele herzliche Küsse, Dein Ernst-Günther

Zu Weihnachten besorgt jeder liebevoll kleine Geschenke für den anderen und wir kaufen gemeinsam etwas für Tante Friedel, bei der wir den Heiligen Abend feien. Am ersten Feiertag lädt sie uns zum Essen ein. Auch die Silvesternacht verbringen wir bei ihr. Als wir uns beim Glockenklang zum Neuen Jahr küssen, wissen wir, dass dieses Jahr 1958 uns die Ehe und eine viel vollkommenere Gemeinschaft bringen wird, als wir sie bisher haben konnten.

2. Füreinander sorgen                 Seitenanfang           Literaturverzeichnis

1958

Am Ostertag ist strahlender Sonnenschein. Du trägst ein duftiges Brautkleid mit offenem Schleier und Blütenkranz, in dem du bezaubernd aussiehst, ich habe mir zur Feier des Tages einen dunklen Anzug geleistet. Mit dem alten Ordenslied „Christ ist erstanden“ geleitet uns der Pfarrer in die Christuskirche in Othmarschen. Als Trauspruch haben wir Salomons Liebesverse aus dem Hohelied gewählt:

Denn Liebe ist stark wie der Tod
und ihr Eifer ist fest wie die Hölle.
Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn,
dass auch viele Wasser nicht mögen die Liebe auslöschen
noch die Ströme sie ertränken.
Wenn einer alles Gut in seinem Hause
um die Liebe geben wollte,
so gölte es alles nichts.

 

Zur Hochzeitsreise fahren wir in eine Försterei in der Lüneburger Heide und streifen durch die aufblühende Landschaft, es ist eine wunderbar erholsame Woche. Jetzt können wir unsere Gemeinschaft mit allen Sinnen genießen. Am letzten Abend meinst du, deine fruchtbaren Tage könnten beginnen. Das reizt mich nur noch mehr, dich zu lieben. Als es dann nach langem zärtlichen Spiel aus mir in dich hinein strömt, ist mir ganz feierlich zumute. Dank der uns von Gott verliehenen Schöpfungskraft schenken wir vielleicht jetzt gerade einem neuen, einzigartigen Menschen das Leben.
Einige Wochen später kommst du bedrückt nach Hause, du bist wirklich schwanger geworden und fürchtest die unbekannten Strapazen der Schwangerschaft und der Geburt. In mir wallt dagegen eine unbändige Freude auf. Ich nehme dich in die Arme und kann gar nicht wieder aufhören, dich zu küssen. Ich verspreche dir, alles zu tun, was mir möglich sei, um dir diese Zeit zu erleichtern. Da passt es gar nicht, dass ich mich für ein Führerlager der CP anmelde. Als ich dir davon berichtet, sagst du glasklar, dass du dir deine Ehe so nicht vorgestellt hast. Noch nie habe ich dich so empört aber auch entschieden erlebt. Ich erkenne, dass du Recht hast. Mein Beruf nimmt meine Zeit so sehr in Anspruch, dass ich dich nicht noch zusätzlich mit Pfadfinderarbeit vernachlässigen darf, besonders in deinem jetzigen Zustand. Wir einigen uns, dass ich das Lager mitmache, aber danach nur kleine Aufgaben übernehme. Zum Abschied sagst du: „Mach’s gut, mein Lieber, ich wünsche dir viel Freude“. Da sehe ich, dass sie du mir diese Reise nicht mehr übel nimmst.
Am 30. Juli, unserem ersten Jahrestag, bin ich wieder zu Hause. Nachdem wir das Wiedersehen mit allen Sinnen genossen haben, sage ich dir, dass ich im Lager gemerkt habe, wie wenig mir die Pfadfinderei gegenüber der Gemeinschaft mit dir noch bedeutet.
Doch das Zimmer bereitet uns Kopfschmerzen. In Poppenbüttel bekommen wir zum 1. Oktober eine Einzimmerwohnung mit Küche, Bad und Veranda. Den Baukostenzuschuss gibt die HEW als Darlehen. Meine alten Möbel kommen aus Berlin, einiges von dir aus dem Harz. Dazu kaufen wir eine Schlafcouch. Die Vorhänge nähst du, einige Hausgeräte sind unter den Hochzeitsgeschenken.
Weihnachten feiern wir in der eigenen Wohnung. Du hast Schwangerschaftsurlaub und kannst das Fest in Ruhe vorbereiten. Diesmal ist Tante Friedel bei uns zu Besuch und am 1. Feiertag lädt sie uns nach dem Gottesdienst in der schönen alten Bergstedter Kirche zum Essen ein.

1959

Freitag, den 2. Januar habe ich frei genommen und das ist gut so, denn nachmittags setzen bei dir, ein paar Tage zu früh, die Wehen ein. Früh am Morgen rufe ich die Klinik an und erfahre, dass du uns um 2 Uhr einen Sohn geboren hast. Mit einem großen Blumenstrauß besuche ich dich und kann durch eine Glasscheibe unser kleines Wunder anschauen.
Du wirst immer sicherer als Mutter und Hausfrau. Abends genießen wir den Frühling bei Spaziergängen mit Andreas im Kinderwagen durch das Alstertal. Einmal schaust du mich dabei an und fragst: „Bist du eigentlich bei mir oder noch bei deinen Relais?“ Ich erschrecke und entschuldige mich: Vor kurzem habe ich meine erste selbstständige Aufgabe bekommen, die Entwicklung einer automatischen Umschalteinrichtung für den Eigenbedarf eines Kraftwerks. Nicht nur, weil mein Gehalt gestiegen ist, setze ich meine ganze Leistung dafür ein, sondern weil ich es gewohnt bin, meine Arbeit möglichst gut zu machen. So gehen meine Gedanken auch nach der Arbeitszeit immer wieder zu den notwendigen Schaltabläufen. Deine Frage macht mir den Zwiespalt klar, in dem sich jeder engagiert arbeitende Ehemann befindet: Auf der einen Seite die Frau, die mit Recht Zuwendung und Aufmerksamkeit fordert, auf der anderen die interessante Beschäftigung (so etwas ist ja ein großes Glück) mit der Möglichkeit, sich zu profilieren, aufzusteigen und der Frau ein besseres Leben bieten zu können. Dann kann Mann aber nicht zum Feierabend die Gedanken an die Arbeit völlig abschalten. Ich schildere dir mein Problem und wir sprechen offen darüber. Du merkst, dass ich dich auf keinen Fall vernachlässigen will, und ich sehe ein, dass ich meine Gedanken zumindest während der wenigen Stunden zügeln muss, in denen ich mit dir zusammen bin.
Einige Wochen nach unserem zweiten Jahrestag, den wir wieder gebührend feierten, bemerkst du, dass wir wohl unser zweites Kind gezeugt hatten. Diesmal freust du dich von Anfang an darüber und erlebst die neue Schwangerschaft ganz anders als die erste: Du weißt, was dich erwartet und kannst dich trotz des Haushaltes mehr schonen und die Zeit besser einteilen.

1960

Am 4. April klagst du spät abends über kurzzyklische Schmerzen, das sind Wehen! Obwohl es zwei Wochen zu früh ist, treibe ich dich aus dem Bett und rufe eine Taxe. Diesmal warte ich auf der Entbindungsstation. Zwanzig Minuten nach der Ankunft erblickt unsere Tochter das Licht der Welt. Ganz kurz darf ich dich sehen und küssen. Und auch die Tochter sehe ich durch die Scheibe. „Mein Schwesterchen heißt Kyria. Ich freue mich sehr, meine Eltern auch“ steht auf der Geburtsanzeige.
Mit dem neuen Familienmitglied passt es gut, dass mein Gehalt auf 827,- DM erhöht wird. „Auf Grund Ihrer Leistungen“, steht im Schreiben, das ich dir stolz zeige, wobei ich dich an das Gespräch an der Alster erinnere. Die Arbeit nimmt mich immer mehr in Anspruch. Ich plane die Schutzeinrichtungen für das neue Kraftwerk und eine Umspannstation. Die Funktionen werden in einer Reihe von Versuchen geprüft, die ich zu überwachen habe. Doch ich will wieder für Menschen verantwortlich sein. Für das neue Kraftwerk wird der Leiter des Elektrobetriebes gesucht und wie bei den HEW üblich, innerbetrieblich ausgeschrieben. Nach Rücksprache mit dir und Herrn Abel bewerbe ich mich dafür.

1961

Als ich am 6. April nach Hause komme, steht ein Blumenstrauß auf dem Tisch. „Welch Verehrer hat dir denn die geschenkt?“, frage ich. „Die habe ich mir zu unserem Hochzeitstag geschenkt“, ist deine Antwort, wobei du schelmisch lächelst. Ich habe nie wieder den Hochzeitstag vergessen!
Ein anderer Ingenieur bekommt die Stelle im Kraftwerk, doch Herr Abel vermittelt mich als Betriebsingenieur in den Netzbezirk Mitte. Für solche Stellen gibt es Werkwohnungen. Im Frühjahr ziehen wir nach Rahlstedt. Zweieinhalb Zimmer mit Wohndiele, Küche, Bad und Terrasse sind jetzt unser Reich.
Ich merke schnell, dass die neue Stelle menschlich delikat ist. Neun Meister für Leitstelle, Umspannstationen und mobilen Schaltdienst unterstanden bisher direkt dem Bezirksleiter, doch jetzt wird eine neue Führungsebene dazwischen eingezogen, die ich für den Hochspannungsbereich einnehmen soll. Ich muss als junger Ingenieur den alten erfahrenen Meistern einen Teil ihrer bisher großen Selbstständigkeit abnehmen, was manche gar nicht gerne sehen. Um möglichst schnell in die neue Aufgabe hinein zu wachsen, begleite ich die Schaltmeister so oft wie möglich und lasse mir erklären, was sie tun und warum. In der Leitstelle beobachte ich die Schaltungen und besuche häufig die besetzten Umspannstationen. Vor allem aber bin ich bei Störungen an der Suche nach der Störungsstelle und den Schaltungen zur Wiederversorgung interessiert, über die ich Berichte schreiben muss. So klingelt nachts öfter das Telefon und ich fahre zur Störungsstelle. Das ist dir nicht so recht, aber du siehst ein, dass wir unsere neue Wohnung nur diesem Job verdanken. Ich bin dankbar, dass du die Aufgaben des Haushalts und der Kindererziehung weitgehend übernimmst.

1962

Am 17. Februar werde ich nachts um 1 Uhr angerufen. Was ich zu hören bekomme, lässt mich schlagartig wach werden: In mehreren Umspannstationen lösen laufend Mittelspannungskabel aus. Ich fahre zur Leitstelle, informiere mich und fahre dann weiter in die Innenstadt, wo die meisten Störungen gemeldet worden sind. Dort traue ich meinen Augen nicht: Die breite Ostwest-Straße steht 40 cm tief unter Wasser. Gerade kommt ein Schaltmeister in seinem Wagen mit schäumender Bugwelle die Straße hoch. Wir stellen fest, dass viele Netzstationen in Kellern voll Wasser gelaufen sind, was zu Kurzschlüssen und Auslösungen geführt hat. Eine Sturmflut drückt die Elbe in die Stadt. Wir trennen die tiefer gelegenen Stationen aus dem Netz heraus versorgen den Rest wieder. – Am 18. 2. falle ich nach 35 Stunden wie tot ins Bett. Zwei Wochen danach schreibe ich einen ausführlichen Bericht, in dem ich auch die erkannten Schwachstellen freimütig nenne. Wie ich später erfahre, wird gerade deshalb der Bericht positiv aufgenommen.
Im Herbst musst du für die sehr häufige Freude aneinander büßen, denn du hast Fehlgeburt im dritten Monat . Das zeigt uns, dass Verhütung nötig ist. Der Arzt empfiehlt ein Diaphragma, das unser Vergnügen in keiner Weise stört.
Als Anerkennung für meine Einsatzbereitschaft bekomme ich zum Jahresende eine Gehaltserhöhung, die wir Sonntags bei einem guten Essen zusammen mit Tante Friedel feiern. Sie spielt zuweilen Babysitter bei den Kindern, so dass wir ins Theater oder die Oper gehen können. Einmal in der Woche gehen wir abends zur Elternschule in der Nähe, wo wir viel für unsere Erziehungsversuche lernen.

1963

Deine Fehlgeburt lässt uns darüber nachdenken, ob wir es bei zwei Kindern belassen wollen. Ich hätte gerne noch ein drittes, du fürchtest die Strapazen einer weiteren Schwangerschaft. Wohl nur meinetwegen stimmst du zu, ein Kind zu adoptieren. Nach intensiver Prüfung durch das Jugendamt bekommen wir ein Angebot für den am 11. März geborenen und von seiner Mutter zur Adoption frei gegebenen Stephan. Da wir dieses Jahr noch in Urlaub fahren wollen, einigen wir uns mit dem Jugendamt, den Jungen erst zum 1. 8. zu übernehmen. Niemand sagt uns, dass es ein großer Fehler ist, das Baby so lange im Heim zu lassen.
In den Ferien gehen wir zum ersten Mal zelten. Nach einem Besuch bei Mutter Teuffel geht es ins Elsass an den Lac du Longemer. Wir bauen unsere Zelte direkt ans Ufer des Sees. Neben faulenzen, Essen kochen und Fahrten in die Umgebung willst du jetzt schwimmen lernen. Mit einem aufblasbaren Ring wagst du dich in meiner Begleitung ins Tiefe. Ich blase jeden Tag weniger Luft in den Ring, bis er leer um deine Brust hängt. Mitten auf dem See wir dir das plötzlich bewusst. „Was soll ich machen, mein Ring ist leer?“ fragst du ängstlich. „Schwimm einfach, du kannst es“, antworte ich. Von nun an schwimmst du frei.
Zu Hause holen wir Stephan ab und merken schnell, wie sehr er in den 4½ Monaten im Heim vernachlässigt worden ist. Wir ahnen, dass wir sehr viel Liebe und Zuwendung brauchen werden, den neuen Sohn auf diesen Stand zu bringen. Doch wir haben uns für ihn entschieden, und sein Zustand zeigt, dass er dringend Menschen braucht, die ihm Liebe und Zuwendung geben. So erneuern wir unseren Entschluss, ihn uneingeschränkt als Kind anzunehmen. Zwei Monate später wird dieser Entschluss auf die erste Probe gestellt. Um deinen Geburtstag herum merkst du, dass du erneut schwanger bist. Doch es gibt keinen Zweifel für dich, auch dieses Kind zu bekommen. „Ich habe Verständnis für Frauen, die Kinder abtreiben“, sagst du, „aber ich werde das niemals tun.“  

1964

Im Mai stürzt du eine Treppe hinunter und kurz darauf, vier Wochen zu früh, setzen die Wehen ein. Diesmal kann ich dich im eigenen Wagen nach Barmbek fahren, wo du am frühen Morgen des 20. Mai Barbara zur Welt bringst. Als ich euch abhole, staune ich, wie sehr sich die fehlenden vier Wochen in der Größe der Tochter bemerkbar machen. Zu unserer Freude beginnt Stephan allmählich, sich normal zu entwickeln. Ich hatte befürchtet, dass du ihm nicht mehr so viel Zuwendung geben könntest, jetzt wo Barbara da ist. Aber deine Güte ist so groß, dass sie problemlos für vier Kinder reicht. Doch du klagst, dass dir der emotionale Zugang zu Stephan fehlt: „Alles, was ich bei den anderen im Gefühl habe, muss ich bei ihm über den Verstand machen. Manchmal muss ich erst überlegen, wie ich bei den eigenen Kindern reagieren würde.“ Als die Anti-Baby-Pille auf den Markt kommt, können wir uns endlich lieben, so oft wir wollen, ohne eine Schwangerschaft befürchten zu müssen.

1965

Im Frühjahr fragt Herr Abel mich, ob ich mir zutrauen würde, den flächenmäßig größten Netzbezirk Bergedorf unter die Lupe zu nehmen, der bei geringem Energieabsatz ebenso viel Personal hat wie die anderen. Bei Bewährung sei in zwei Jahren die Nachfolge des Bezirksleiters denkbar. Ich erbitte Bedenkzeit. Diese Aufgabe erfordert mehr als Personalführung, die mir in den letzten Jahren recht gut gelungen ist. Ich habe erstaunt festgestellt, dass Mitarbeiter-Führung und Kindererziehung sehr ähnlich sind, wenn man den anderen als Persönlichkeit anerkennt. Doch hier muss ich wirtschaftlich denken. Schließlich sage ich zu, weil ich in zwei Jahren Abteilungsleiter werden kann.

1966

Anfang des Jahres hat mein Chef eine neue Überraschung für mich: Er denkt über eine zentrale Netzüberwachungs- und Schaltwarte für ganz Hamburg nach. Weil er gehört hat, dass in England die Technik schon weiter ist, plant er im Mai einen Besuch dort und ich soll ihn begleiten. Bedingung ist, dass ich einigermaßen fließend englisch spreche. Zum Reisetermin bin ich so weit fit, dass ich mich gut verständigen kann.
In Hamburg bekomme ich zusätzlich die Aufgabe, alle Artikel in Fachzeitschriften zum Thema „zentrale Netzführung“ zu sammeln, wo nötig zu übersetzen und nach oben zu geben. Von nun an gibt es kaum jemanden bei der HEW, der besser informiert ist. Ich habe ein Ziel: Falls je eine solche Warte bei uns gebaut wird, will ich sie maßgeblich mit formen und, wenn möglich, leiten. Du siehst diese Idee mit gesunder Skepsis, doch sagst du: „Wenn dich das reizt, dann arbeite ruhig darauf hin. Was ich tun kann, um dich dabei zu unterstützen, das will ich gerne tun.“ Das ist ein großes Geschenk.
Herr Abel hat noch eine weitere Aufgabe für mich: ein Trainingssystem für das Schaltpersonal in Leitstellen zu entwickeln, bei dem nach Art der gerade aufkommenden Unternehmensplanspiele mit simulierten Schaltungen und der notwendigen Kommunikation normale Betriebsabläufe und Störungen geübt werden können.
In Bergedorf wird mir klar, dass die große Fläche überwiegend aus Äckern besteht, und ich kann nachweisen, dass Bergedorf von zwei Meistern betreut werden kann, anstatt wie bisher von drei Ingenieuren, fünf Meistern und viel Personal. Doch nun muss ich überlegen, wie ich mir meine berufliche Zukunft vorstelle: Abteilungsleiter in einem Minibezirk ohne jede technische Herausforderung – oder Planer und später vielleicht Betreiber einer zukunftsweisenden Technik? Mit meinen 35 Jahren fühle ich mich für die erste Variante zu jung, wenn sie auch schnell einen Titel und mehr Geld bringen würde. Du kennst mich genug, um meine Tendenz zu der interessanten Lösung zu unterstützen, obwohl das wohl auch für dich ein unruhigeres Leben bedeutet. Also gebe ich den Bericht ab, und der Bezirk Bergedorf wird nach der Pensionierung des Bezirksleiters als Meisterbereich nach Harburg angegliedert.

1967

Unsere Wohnung wird uns zu eng und wir wollen etwas Eigenes haben. Wir informieren uns über Geldquellen und stellen fest, dass wir erhebliche Kredite bekommen können. So kaufen wir ein Grundstück in Bergedorf und bestellen ein OKAL-Fertighaus aus Holzelementen, bei dem wir den Grundriss verändern, um eine größere Essecke zu bekommen. Die vielen Probleme, die wir während des Baues lösen müssen, könnten ein eigenes Buch füllen. Doch ein Ereignis klärst du ganz alleine. Ich bin in einer Schulung, als schwerer Sturm und Regen angekündigt wird. Die Decke auf unserem Kellergeschoss ist gerade geschüttet worden und darf kaum nass werden. Du fährst mit den Kindern nach Bergedorf, organisierst große Planen und deckst während des Regensturmes die 140 m2 ab, so dass das Wasser nichts anrichten kann. Ich hatte nichts von dem Sturm mit bekommen, aber als du mir am Abend deine Heldentat berichtest, falle ich dir um den Hals. Was wäre unser gemeinsames Wohl ohne dich, dein Mitdenken, deine ständige Einsatzbereitschaft!
Mitte November wird das Haus geliefert und ist innerhalb einer Woche bezugsfertig. Am 28. November ziehen wir ein und die Tage vergehen mit Auspacken und Einrichten wie im Fluge. .

1968

Weil wir die Diele großzügig gestalten wollen, bauen wir an einem Wochenende mit den beiden Großen aus Kiefernbrettern und Moniereisen die Treppe vom Keller bis zum Dachgeschoss selber. Um die Stangen zu versteifen, schweiße ich ein Netzmuster davor. „In der Mitte müsste jetzt eine Spinne sitzen“, meinst du und ich forme sie nachts um 2 Uhr aus Blech mit angeschweißten Beinen.
Im Herbst wächst schon Rasen im Garten und ich habe Platten gelegt. Du pflanzt viele kleine Büsche und hast jetzt einen Bereich, der dir viel Freude macht.

1969

Am 1. März werde ich zum Unterteilungsleiter der Netzwarte und Projektleiter für die geplante Zentrale Warte ernannt. Ich bin meinem Ziel ein ganzes Stück näher gekommen. Am Abend lade ich dich zum Essen ein, berichte dir von meiner Ernennung und danke dir von ganzem Herzen für die wunderbare Gemeinschaft mit dir. Ohne deine stetige Hilfe, ohne dass du mir im Haushalt so vollkommen den Rücken frei hältst und ohne das unverbrüchliche Bewusstsein deiner Liebe hätte ich diese erste wesentliche Stufe in meiner Karriere niemals geschafft. Dann klingen unsere Gläser aneinander und du gratulierst mir herzlich. Ich merke auch dir die Freude an und küsse dich vor allen Gästen.
Ein Kollege erzählt, dass sie regelmäßig den FKK-Zeltplatz Hooksiel bei Wilhelmshaven besuchen. Wir überlegen, ob wir „so etwas“ mit machen wollen. Schließlich siegt die Vernunft. Warum sollen wir nicht so schwimmen, wie Gott uns geschaffen hat? Wir haben herrliche Wochen in der Ungezwungenheit dieses Platzes direkt an der See, machen ausgedehnte Wattwanderungen und besuchen die Orte in der Umgebung. Die Kinder genießen die Freiheit mit anderen Kindern in der Natur und kommen nur zum Essen und zum Schlafen ins Zelt.

1970                                                                                                                                Literaturverzeichnis                       Seitenanfang

Wir beginnen, das Dachgeschoss des Hauses auszubauen. Mit intensiver Hilfe von Andreas und Kyria werden die Deckenbalken verkleidet, Zwischenwände mit Türen gesetzt, ein Fußboden gelegt und das Ganze tapeziert. Aus einem alten HEW-Bürohaus erwerben wir billig Möbel für die Kinderzimmer.
Die analytische Denkweise der Programmierer lehrt mich, dass man ein komplexes Problem nur lösen kann, wenn man es in überschaubare Einzelprobleme aufdröselt. Für den Rechnerbetrieb hole ich mir einen sehr kritischen Planungsingenieur. Ich hatte schon vor zwanzig Jahren kritische Mitarbeiter nicht gefürchtet, als ich den ähnlich verrufenen Nuddle zu mir holte. Und wie damals gewinne ich einen hervorragenden Mann, der später mein Nachfolger werden sollte.
Nach einem Jahr ist das Lastenheft mit einer ganzen Menge neuer Anforderungen fertig, die die Arbeit der Wartenmitarbeiter erleichtern sollen. Die Idee, die ich vor vier Jahren hatte, Leitungen stets mit beiden Seiten darzustellen, ist ein wesentlicher Teil der Anforderungen.

1971

Im Herbst bauen wir den Rest des Dachgeschosses aus. Vier Zimmer haben die Kinder jetzt, ein kleines Bad und einen großen Vorraum zum Spielen. Als ich mich zu einem Französischkurs anmelde, sagst du: „Ich komme mit, das interessiert mich auch.“ Ich freue mich sehr. Zum Jahresende fahre ich zu einem Computer-Kurs nach Karlsruhe.

1972

Karlsruhe, der 31. 1. 72 Geliebte,                          W
Ich will Dir ein bisschen von Strasbourg erzählen. Ich ging zunächst ins Münster, wo ich feststellte, dass der Unterschied zu Köln hauptsächlich durch den Engelspfeiler im rechten Seitenschiff gebildet wird, der deutlich von den massiven Tragepfeilern abweicht. ... Als ich schön durchgefroren war, trank ich heißen Tee, und da eine Patisserie zu dem Salon gehörte, bekam ich auch ein Stück Kuchen. Unser gelerntes Französisch anzuwenden getraute ich mich noch nicht. Alle sprachen leidlich Elsässer Deutsch. Ich hatte das Gefühl, dass auch ihr Französisch sich breit elsässisch anhört. 
Gestern war ich im Albtal, es hat mir gut gefallen, doch die Beine taten mir von der Wanderung durch Strasbourg weh. ...  Vielen Dank auch noch für den Brief. Nun lass Dich herzlich küssen, als Vorschuss sozusagen, von Deinem Ernst-Günther

Danach beginnt die Systemanalyse. In acht Arbeitskreisen werden die Themen diskutiert und von den Siemens-Mitarbeitern geeignete Lösungswege beschrieben. Ich nehme an allen Arbeitskreisen teil, um die Ergebnisse zu koordinieren.
Herr Abel möchte für das mobile Schaltpersonal eine Arbeitsvorbereitung in das Leitsystem integrieren. Als der Arbeitskreis erkennt, dass dies das System zu sehr belasten würde, traut sich niemand, dem Chef die Idee zu nehmen. Ich bin als Projektleiter für ein funktionsfähiges Leitsystem verantwortlich und will später vernünftig damit arbeiten können, also muss ich jetzt handeln. In einer Besprechung schildere ich die Bedenken der Fachleute und habe mich nicht getäuscht. „Schade“, sagt Herr Abel, „aber Sie haben Recht, die korrekte Netzführung ist am wichtigsten. Vielen Dank.“ Die Abteilungsleiter starren mich an wie einen Geist.
Unsere Tochter bekommt ihre erste Regel, Du hast sie natürlich darauf vorbereitet. Ich freue mich und kaufe ihr einen hübschen kleinen Anhänger. „Als Anerkennung, dass du jetzt eine Frau bist“, sage ich zu ihr.

1973

Ein Netzbezirksleiter ist gestorben und Herr Abel eröffnet mir, dass ich als Nachfolger vorgesehen sei, falls er für mich Ersatz fände. Wieder muss ich mich entscheiden und vergleiche die beiden Varianten in einer Analyse. Die Arbeit an der Netzwarte hat Vorteile in der Zukunft: interessante Tätigkeit, Mitbestimmen von Entwicklungen, einen Namen machen. Die Bezirksleitung hat finanzielle Vorteile in der Gegenwart, die sind aber so gering, dass ich nicht enttäuscht bin, als mein Chef mir nach ein paar Wochen mitteilt, dass keiner der Kandidaten meinen Job haben will. Alle halten das für einen Schleudersitz. Mir wird diese Entwicklung durch eine ansehnliche Gehaltserhöhung versüßt.
Nach Abschluss der Systemanalyse beginnt die Programmierung. Zu einer ersten Besprechung in den Herbstferien kommst du mit den Kindern mit nach Erlangen. Während ihr euch Nürnberg anseht, plane ich mit Siemens die Arbeit für die nächsten Jahre. Anschließend fahren wir zur Klause im Bayerischen Wald, in der ich vor zwanzig Jahren öfter gewesen bin. Die Besitzerfamilie wohnt nicht mehr dort, sondern in Neureichenau. Wir vereinbaren, dass wir im nächsten Sommer in der Klause unterkommen könnten. Danach beginnen meine drei Erlanger Jahre.

1974

Ich habe ein möbliertes Zimmer in einem Einfamilienhaus und komme meist Donnerstag oder Freitag spät nach Hause. Manchmal brauchen wir etwas Zeit, um wieder miteinander vertraut zu werden. Dann allerdings geben wir uns alles, was wir an Liebe füreinander haben. Es ist immer wieder eine Offenbarung für mich, wie auch du dabei aus dir heraus gehst und mir mit deinem ganzen wunderbaren Körper deine Liebe beweist.
Die meisten Probleme im Haus klärst du alleine. Dringende Fragen besprechen wir telefonisch. Ich freue mich, wie selbstständig du geworden bist. 

Erlangen, den 21. 5. 74                                   W
Geliebte, als ich am Sonntag Abend auf der Autobahn nach Erlangen fuhr, hatte ich große Sehnsucht nach Dir und wäre lieber bei Dir geblieben. Ich weiß nicht, ob wir durch den Besuch von Peters Familie am Wochenende zu wenig Zeit füreinander hatten, oder ob es einfach nötig ist, mal wieder länger als ein Wochenende zusammen zu sein. ... Weißt Du, ich habe bei meinen Spaziergängen und Radfahrten durch die Wälder hier darüber nachgedacht, wodurch eigentlich der sichtbare Erfolg im Berufsleben eines Mannes bestimmt wird. Und ich glaube, ein ganz wesentlicher Faktor ist die Ehefrau. Wenn er ihrer Liebe sicher ist, wenn er weiß, dass sie den Haushalt mit seinen vielfältigen Problemen meistert, wenn die Gedanken, die auch während der Arbeit ab und zu bei ihr sind, Gedanken der Liebe und Freude sind, dann lässt sich daraus eine Kraft ziehen, die die Probleme im Beruf leichter lösbar macht. Ich habe das schon ein paar Mal angedeutet, als ich sichtbare Erfolge hatte, aber in dem ganzen Umfang ist mir dieser Zusammenhang erst jetzt klar geworden, als ich Muße hatte, einmal darüber nachzudenken. Und deshalb lass mich Dir jetzt ganz klar sagen: Ich bin dankbar, dass ich Dich habe. Ich liebe Dich über alles. Ohne Dich, ja ganz speziell ohne Dich wäre mein Leben nicht halb so schön, ach was, nicht ein Zehntel so schön. Dass ich manchmal launisch bin, dass ich manchmal versuche, Dich in diesem oder jenem Punkte zu ändern, tut dem Gesagten keinen Abbruch. Teilweise sind es wirklich Augenblickslaunen, teilweise geschieht es aus der ehrlichen Meinung, dass es anders für Dich besser wäre. Aber Du musst das entscheiden, denn Du führst Dein Leben. Und ich liebe Dich, so wie Du bist, denn Du bist ein wesentlicher Teil meines Lebens.
In Liebe viele Küsse,  Dein Ernst-Günther

Im Sommer machen wir zum ersten Mal Ferien in der Klause im Bayerischen Wald. Du holst mich mit den Kindern in Erlangen ab. Der nicht mehr bewirtschaftete Einödhof mit großer Wohnküche und einigen Nebenräumen steht auf einer Lichtung mitten im Wald. Der nächste Ort ist vier Kilometer entfernt. Strom gibt es nicht, das Wasser kommt aus einer Quelle vors Haus, als Toilette dient der Wald. Die Kinder sind begeistert, besonders da Franzl uns oft besucht. Brennholz für den Herd finden wir im Wald. Fünfzig Meter vom Haus entfernt baden wir im Michelbach, der der Klause den Namen gibt.
An einem Abend sprechen wir mit Andreas und Kyria über Liebe und Sex. Einiges wissen sie schon aus der Schule oder von Freunden. Wir schildern das Wachsen von Zuneigung und Liebe, das langsame einander näher Kommen, den Wunsch nach vollkommener Vereinigung, die Funktion der Geschlechtsorgane, die einzelnen Phasen des Aktes, die Verhütungsmethoden, die Prostitution und die Krankheiten. Da wir davon überzeugt sind, dass Masturbation etwas Natürliches sei, erläutern wir ihnen auch dieses schöne Spiel. Doch der wesentliche Tenor ist die Freude an der Gemeinsamkeit der Liebe: „Überschreitet mit einem Menschen erst dann die letzte Grenze, wenn ihr ihn so sehr liebt, dass ihr euer ganzes Leben mit ihm verbringen könntet.“ Du bietest Kyria an, ihr die Pille zu beschaffen, wenn sie sie brauche.

1975

In Erlangen ziehe ich in eine kleine Wohnung mit eigenem Bad und Toilette, einem Doppelbett und einer Kochnische und habe jetzt ein abgeschlossenes eigenes Reich.
Nach acht Jahren renovieren wir unser Haus. Ich kann mich nur an den Wochenenden beteiligen. Meist fangen wir Samstag früh an, und ich lege die Arbeit Sonntag Abend aus der Hand, bevor du mich zur Bahn fährst. Den Sommer verbringen wir wieder in der Klause.
Zu deinem 40. Geburtstag am 24. 10. schreibe ich dir aus vollem Herzen:

Meine Karin,
    ich liebe Dich,
    ich liebe Dich seit fast 20 Jahren,
    ich werde nie aufhören, Dich zu lieben.
    Du bist mein Leben,
    ohne Dich wäre es nichts,
    ich liebe Dich,
    Dein Ernst-Günther

1976

Zwischen Kyria und dem ein Jahr jüngeren Mathias, Rolfs Ältestem, bahnte sich ein zartes Liebesverhältnis an, das ich mit Freude beobachte.
Etwas später besuchst du mich an einem Freitag in Erlangen. Es wird fantastisch. Dass du mich alleine in meiner Wohnung besuchst, hat etwas laszives, und wir landen auch gleich im Bett, das wir nur verlassen, um etwas zu essen und ein Glas Wein zu trinken. Bis zum Morgen schlafen wir eng umschlungen beieinander. Samstag fahren wir in die Fränkische Schweiz. In einem Dorfhotel bekommen wir ein Zimmer mit Himmelbett. Vor und nach dem Essen laufen wir auf dem Idiotenhügel Ski. Abends gibt es Tanz, den wir sehr genießen. Im Himmelbett kommen wir uns vor wie ein Königspaar, so glücklich sind wir.
Während der Osterferien kommt Mathias Kroeger für zwei Wochen zu Besuch, und es ist eine Freude zu sehen, wie Kyria und er sich ganz langsam, auch körperlich, näher kommen, obwohl der Abstand immer noch groß bleibt. Ostern holen Mathias’ Eltern ihren Sohn wieder ab. Natürlich sprechen wir über die beiden, aber uns verschlägt es die Sprache, als Trudi fragt: „Haben sie denn schon miteinander geschlafen?“. Wir erläutern ihnen, dass die Annäherung noch genau wie früher in vielen kleinen, nur langsam intensiver werdenden Schritten geschieht, die ihre Zeit brauchen.
Gleich danach gehen die Primärtests für die Warte los. Tausende von Schaltern, Meldungen und Messstellen in 65 Umspannstationen müssen ohne Versorgungsunterbrechung auf die neue Anlage geschaltet und einzeln geprüft werden.

1977

Am 3. Januar wird Andreas volljährig. Bei einem Glas Sekt sage ich: „Du hast jetzt das Recht, ganz zu tun, was du willst, und wir haben mit Freude gesehen, dass du deine Freiheit nie missbraucht hast. Doch wir werden dir weiterhin gute Ratschläge geben, wenn wir meinen, dass du sie dir nutzen.
Ich habe den Kindern zum 18. Geburtstag den Führerschein versprochen. Nach einer Prüfung darf ich sie selbst ausbilden und die Prüfungsfahrt mit ihnen machen. Danach geben wir ihnen bedenkenlos unsere Wagen.
Kyria bittet dich, ihr die Pille zu beschaffen, Wir freuen uns über ihr Vertrauen. Kurz danach ruft Rolf an, Kyria beantworte Mathias’ Briefe nicht mehr. Vorsichtig sage ich meiner Tochter, dass man einem Menschen gegenüber, dem man vertraut war, Verpflichtungen hat. Und wenn man sich von ihm trennen wolle, müsse man das klar sagen, aber nicht vergessen, dass man sich nahe gestanden hat.
Zu unserem zwanzigsten Jahrestag schenke ich dir einen Ring mit zwanzig kleinen Brillanten zum Dank für die wundervolle Zeit miteinander.

1978

Ende Juni bittet mich Herr Abel zu sich nach Hause. Bei einem Glas Wein eröffnet er mir, dass ich morgen vom Vorstand zum Abteilungsleiter der neuen Netzwarte ernannt werde. Er freut sich darüber und gibt mir einige gute Ratschläge mit auf den Weg. Zu Hause falle ich dir um den Hals. Mit deiner Hilfe bin ich nur fünf Jahre später, aber auf einem viel interessanteren Weg in den kleinen Kreis der Leitenden Angestellten gelangt.
Zu Weihnachten kaufe ich dir dankbar einen exklusiven Ohrhänger mit einer 2.500 Jahre alten ägyptischen Glasblume.

1979

Im Frühjahr fahren wir alle in die Schweiz und tummeln uns bis 3.000 Meter bei herrlichem Schnee und gutem Wetter. Du machst einen Skikurs und fährst fortan erheblich besser als ich.
Mein Vater ist schwer krank. Die Schwestern bitten mich, auch Erika zu rufen. Es ist, als ob er Abschied nehmen will, in der Nacht nach ihrer Ankunft stirbt er. Da er zu keiner Kirche gehört, ist die Feier nur weltlich, doch Bringfried segnet die Urne ein. Aus dem Anteil des Erbes kann ich die letzten Schulden für das Haus abzahlen. 
Tante Friedels Geist verwirrt sich. Weil sie nicht mehr alleine verreisen kann, nehmen wir sie mit in den Bayerischen Wald. Die drei Älteren haben eigene Urlaubsinteressen, so kommt nur noch Barbara mit uns. Die Tante wird in der Nachbarschaft untergebracht, und tagsüber holen wir sie in die Klause. Mit Barbara unternehmen wir einen mehrtägigen Ausflug nach Budapest. Abends auf der Margaretheninsel wird sie ständig zum Tanzen aufgefordert. Mit ihren langen blonden Haaren stellt sie einen Magneten dar. Wir bemühen uns, sie nicht aus den Augen zu verlieren.
Da die interessierten Besuche von anderen Unternehmen in der Netzwarte überhand nehmen, arbeite ich für die CONSULECTRA, die Beratungstochter der HEW, ein Seminar aus, das vielfach wiederholt werden muss. Daraus entwickelt sich eine Reihe von Beratungsaufträgen .

Irgendwann in diesen Jahren:

Die meisten Begegnungen mit dir sind zur Gewohnheit geworden und eine immer stärker werdende Stimme in mir sagt: „Das kann doch nicht alles gewesen sein!“ Es ist wohl eine Neugier in mir, wie eine andere Frau in der tiefsten Begegnung reagiert, und auch der Wunsch nach Neuem, Interessanterem in dieser Begegnung, das mit dir nicht mehr aufkommen will. Um mich vor mir zu rechtfertigen, bastele ich mir eine Theorie zusammen, dass ein Mann ruhig noch eine andere Frau lieben kann, wenn er nur die eigene weiterhin am meisten liebt. Dafür setze ich mir klare Grenzen: Ich will dich stets mehr lieben als irgend jemanden sonst und dich nie verlassen. 
Schon lange fasziniert mich eine attraktive und warmherzige Frau, die ich Jutta nenne. Sie lebt nicht in Hamburg und ihre Ehe ist nicht glücklich. Ich besuche sie ein paar Mal und wir kommen uns sehr nahe. Zu ihrer Ehre muss ich sagen, dass sämtliche Aktivitäten von mir ausgehen, ja dass sie zuerst noch bremst. Ich mache ihr von vorn herein meine selbst gesetzten Grenzen klar, die sie akzeptiert.
So erlebe ich nun wunderschöne Stunden mit Jutta und sie genießt unsere wenigen Begegnungen ebenfalls. Ich bin ihr noch heute dankbar, denn sie hat mein Leben bereichert. „Ich liebe dich ein großes bisschen“, sage ich zu ihr, worauf sie antwortet: „Du sollst vor allem deine Frau lieben“, und später: „Ich kenne keinen Mann, der so tief über die Frauen nachdenkt wie du.“ Wir schreiben uns lange Briefe, und den Zwiespalt meiner Gefühle zwischen ihr und der ungebrochenen Liebe zu dir verarbeite ich in einem romantischen Bericht für sie mit dem Titel „Späte Liebe brennt nicht heiß“.
Deine Liebe zu mir ist wohl größer als meine zu dir, denn allmählich merkst du, dass etwas mit mir nicht stimmt. Endlich fragst du mich direkt, da gebe ich dir die „Späte Liebe“, froh, dass das Versteckspiel vorbei ist. Als du sie gelesen hast, machst du mir keine Vorwürfe, sondern sagst nur traurig ein einziges Wort: „Warum?“ Aus dem Versuch einer Erklärung werden lange Gespräche, die über Wochen hinweg viele Abende füllen. Verwirrt schlage ich dir vor, es doch auch einmal außerhalb unserer Ehe zu versuchen, doch dein ungläubiger Blick zeigt mir, dass ich dich mit diesem Ansinnen tief beleidige. Wie vor vielen Jahren füllen sich deine Augen mit Tränen, doch du verwehrst es mir nicht, sie dir fort zu küssen. „Dafür stelle ich wohl zu hohe Ansprüche“, sagst du dann nachdenklich und ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment auffassen darf.
Allmählich begreife ich, dass meine Theorie zwar für mich zutreffen mag, aber du, obwohl ich dich weiter über alles liebe, dich dabei nicht mehr geliebt fühlst. Ich erkenne, wie sehr du unter meinem Handeln leidest, sehe, dass du mir nicht mehr glaubst, ich würde dich nie verlassen. Ich kann und will dich aber nicht meinetwegen leiden sehen, dafür liebe ich dich viel zu sehr. Das ist für mich Grund genug, von nun an jede andere Beziehung zu meiden. Doch wie sehr ich dich verletzt habe, wird mir klar, als ich sehe, wie lange du brauchst, um deine alte Fröhlichkeit wieder zu gewinnen. Lange gehst du nicht mehr mit mir zum Abendmahl. Nur ganz allmählich wird aus der tiefen Krise unserer Gemeinschaft ein wundervoller Neubeginn, so eng und innig, wie schon seit Jahren nicht mehr.

 

3. Miteinander erleben                Seitenanfang             Literaturverzeichnis

1980

Das Jahr beginnt mit einem Beratungsauftrag für die Energieleitstelle der BASF in Ludwigshafen. Jetzt bin ich neben der Leitung der Netzwarte viel als Berater unterwegs.
Ich fahre mit dir nach England zu einer internationalen Konferenz. Ganz allmählich glaubst du wieder, dass ich nur dich liebe. Montag bis Donnerstag nehmen Herr Abel und ich an der Tagung teil, auf der ich meinen Vortrag über die Hamburger Warte halte. Du erkundest derweil London per Bus. Freitag führst du mich durch die Stadt.
Zwei Wochen später fahren wir zum ersten Mal ohne Kinder in die Ferien. Nach jeweils drei Tagen in Amsterdam und Delft bekommen wir in Paris ein schönes Zimmer mit zwei grands lits. Nach köstlichem Essen in einem kleinen Bistro kaufe ich dir auf der Pont Neuf rote Rosen. Immer leidenschaftlicher werden unsere Küsse, bis wir im Zimmer übereinander herfallen. Fünfmal lieben wir uns in dieser Nacht, nur unterbrochen von Phasen kurzen Schlafes. Als ich einmal nicht so schnell wieder fähig bin, streichelst du „ihn“ zärtlich mit dem Mund, bis ich in dich gleiten kann. Das hattest du noch nie getan und ich nehme es als höchsten Liebesbeweis. Aus unserer tiefsten Krise ist die Liebe wie ein Phoenix aus der Asche neu geboren worden, und du hast mit deinem Verzeihen den größten Anteil daran. Jetzt weiß ich, dass wir beide in der vollkommenen Gemeinschaft angekommen sind.
Später finde ich ein Gedicht von Jalé, das unser Erleben in dieser Nacht wunderbar klar ausdrückt:

Ich möchte verzaubern,
    die ganze Nacht verzaubert sein,
    wie unsere Haut eins wird.
    Ein Mantel, der unsere Magie umhüllt
    bis zum Morgen.
    Ich möchte begehren,
    bis zum Morgen begehrt sein,
    dass wir eins werden.
    Ein Ganzes, das unsere Körper aneinander stillt
    die ganze Nacht.
    Ich möchte Deinen Duft riechen,
    deine salzigen Lippen schmecken,
    deine Lust sehen,
    dein Seufzen hören
    und Deine Gänsehaut ertasten.
    Lass unsere Seelen einander atmen
    die ganze Nacht, bis zum Morgen.
    Und wenn wir uns lösen voneinander,
    lass uns ein Stück davon
    durch den Tag tragen.

Später erreichen wir das Chateau de Lentilly, wo wir von jungen Künstlern in die gestalterischen Grundlagen eingeführt werden. Du modellierst einen Hund, ich male Blumenaquarelle. An einem Nachmittag haben wir keine Lust zu arbeiten. „Komm, lass uns spazieren gehen“, sagst du, und ich streifte mit dir durch die Felder. Auf einer einsamen Blumenwiese küssen wir uns innig, dann versinken wir in den Feldblumen und ineinander, es ist herrlich in der freien Natur, und wir sind glücklich, dass wir einander wieder haben. Im Dorf trinken wir einen großen Poire William. Nach einer Woche fahren wir weiter nach Ludwigshafen, wo ich am nächsten Tag bei der BASF zu tun hatte.

1981

Heute soll das große Abenteuer auf der Ardèche starten. Wir stehen um 7 Uhr auf, wahrscheinlich sind wir so früh die einzigen. Am Strand schlafen junge Menschen. Wir nehmen unser Morgenbad ganz leise, um sie nicht zu stören. Als ich die Schlafsäcke zum Wagen bringe, sehe ich einen jungen Mann aus dem Zelt kommen und zum Fluss schauen. Als er dich erblickt, wie du völlig nackend, so wie du vom Baden gekommen bist, das Zelt abbaust, stockt ihm der Atem und er kann den Blick nicht von deiner wunderschönen schlanken Figur lassen. Verstehst du, dass ich mich freue, dein Mann zu sein?
Nach dem Frühstück bekommen wir unser Boot. Wir sind im Badezeug und haben leichte Hemden über gezogen. Kleidung für die Rückfahrt, Verpflegung, Getränke und der Fotoapparat sind in einer verschraubten Tonne deponiert, die wir im Boot fest binden. ... Die erste Stromschnelle ist leicht, doch vor der zweiten, „Les trois eaux“ mit Namen, werden wir herum gewirbelt, ehe wir wissen, was uns geschieht. Querab treiben wir auf die Stufe zu. Wir sehen uns schon kopfüber im Wasser liegen, da hat das Boot plötzlich wieder die Fahrtrichtung und wird mit einem starken Schwall durch die Lücke zwischen den Felsen hindurch gezogen. Unterhalb der Stromschnelle ist das Wasser etwas ruhiger. Unser Boot ist halb voll geschlagen, so dass wir mühsam zum Ufer paddeln. Als du aussteigen willst, treibt das Heck herum. Erschrocken trittst du zurück. Das ist zu viel für den voll gelaufenen Kahn, er schlägt blitzschnell um und wir liegen im Wasser. Gut, dass wir die Schwimmwesten um haben, wir haben alle Hände voll zu tun, das Boot, die beiden Paddel und die Tonne, die sich los gerissen hat, an Land zu bekommen. Andere helfen uns, so können wir uns von dem Schreck erholen. ...
Nach einer Weile sind unsere Sachen etwas getrocknet, ich zurre die Tonne besser fest und wir trauen uns wieder ins Wasser. Wir sind noch gar nicht lange gefahren, da wird eine der drei wirklich gefährlichen Stromschnellen angekündigt: „La dent noir“. Schon der Name ist zum Fürchten und uns beschleichen bange Gefühle. Hinter uns kommt ein Boot mit Deutschen, die den Fluss zu kennen scheinen. Wir lassen sie vorbei und tun genau dasselbe wie sie: umso stärker paddeln, je kräftiger die Strömung ist. So kommen wir heil durch die Wirbel und begreifen: Nur wenn das Boot schneller ist als das Wasser, kann man es lenken. An einem Sandstrand legen wir an, essen, trinken und schwimmen in dem herrlich warmen Wasser, nackend wie die meisten anderen. Auf der anderen Seite ist eine Sprungstelle, es ist ein wunderschönes Bild für mich, dich mit wehenden Haaren kopfüber in die Fluten springen zu sehen. Und weil wir hier ganz alleine sind, und die Büsche und das Gras so einladend aussehen, und wir ohnehin nichts an haben und uns doch lieben – so tun wir es eben.
Am frühen Abend erreichen wir das Ziel und werden vom Vermieter wieder ins Camp gebracht. Wir bestellen ein kräftiges Essen und Wein, womit die Lebensgeister schnell wiederkehren. Abends legen wir den Schlafsack an den Strand. Es ist wunderbar, direkt unter dem Sternenhimmel zu schlafen. „Mit dir kann man Pferde stehlen“, flüstere ich dir ins Ohr. „Dazu braucht man aber einen Mann wie dich“, meinst du und küsst mich liebevoll.
Nach einer Fahrt durch das Land kommen wir in das kleine Dorf Lacoste. Wir steigen die steilen Gassen bis zum Glockenturm hinauf, den wir beide malen. Er ist aus Kalkstein gebaut, mit einer grazilen Schmiedekonstruktion als Glockenträger auf schönen Kapitellen. Über dem Dorf gibt es ein Plateau, mit vielen Kräutern bewachsen. Le soleil brille (wir übersetzen das mit „die Sonne brüllt“), kein Mensch ist um diese Mittagsstunde in der Gegend, wir breiten unsere Decken auf einer kleinen Wiese aus, ziehen uns aus und lassen uns Brot, Käse und Wein schmecken. Als Dessert genießen wir die vollkommene Gemeinschaft lange und ausgiebig, und es ist wunderschön in dieser herrlichen Natur unter der warmen Sonne. Um uns herum wachsen duftende Kräuter in Mengen: Pfefferminze, Salbei, Thymian, Lavendel und viele andere, und auch sie tragen zu unserer glücklichen Stimmung bei. Später pflückst du, nackt wie Gott dich geschaffen hat, Lavendel und windest mir einen Kranz daraus.
Keine Autofahrt liegt vor uns, kein Hotelfrühstückstermin zwingt uns zum Aufstehen – allerdings bringt uns auch niemand das Frühstück ans Bett. Wir malen auf der Terrasse unseres Hauses gemeinsam ein letztes Urlaubsbild: die Rose und das Vogelhäuschen. Du malst fantasievoll in leuchtenden Farben die gerade erblühte rote Rose, ich konstruiere sehr exakt das dahinter stehende Vogelfutterhaus auf dem dreibeinigen Ständer. Es ist der gelungene Abschluss eines gelungenen gemeinsamen Urlaubs. Gelungen deshalb, weil wir aufeinander eingegangen sind, Hand in Hand gearbeitet haben, weil jeder bemüht war, den anderen auch zur Geltung kommen zu lassen, weil wir in Liebe miteinander umgegangen sind. Unsere Liebe ist größer geworden in diesen 4½ Wochen. Wir freuen uns darauf, bald wieder zu zweit eine gute Zeit und ein freies Leben genießen zu können.

1982

Ende Juli nutzen wir eine Reise nach Ludwigshafen, um im Elsass unseren 25. Jahrestag zu feiern. Da das Hotel du Cerf in Neuwiller-les-Saverne nicht mehr existiert, fahren wir nach Strasbourg, wo wir viele interessante Ecken finden, die wir damals nicht gesehen haben. Dass wir lange und innig unser Jubiläum feiern, versteht sich von selbst.
Im Herbst danach feiere ich mein 25-jähriges Jubiläum bei der HEW. Samstag Nachmittag laden wir meine beiden Unterabteilungsleiter mit Frauen und meine Sekretärin in ein spanisches Restaurant zum Essen und Tanzen ein.

1983

Unsere Silberhochzeit feiern wir auf einer Kreuzfahrt im Mittelmeer:

Ephesos lag früher am Meer, eine Prachtstraße führt noch zum alten Hafen. Wir sehen Tempel, Badehaus und Freudenhaus. Hier hat man eine Figur mit überlangem Phallus gefunden. Auch ein Toilettenraum wird uns gezeigt für gemeinsame „Sitzungen“, eine Eckbank mit entsprechend geformten Öffnungen. Besonders beeindrucken uns die wieder aufgebaute Bibliothek des Celsos und das Theater, in dem vor zweitausend Jahren Paulus mit Silberfiguren der Diana beworfen wurde.
In einem Teppichgeschäft hören wir einen Vortrag über Teppicharten und das Knüpfen von Teppichen. Wir haben uns beide in einen kleinen seidenen Gebetsteppich verliebt, einen Hereke von großer Farbenpracht und Ausdruckskraft. Wir vergleichen ihn mit anderen, aber er gefällt uns am besten. Er ist teuer und ich bin nicht sicher, ob wir übers Ohr gehauen werden. Schließlich kaufen wir ihn doch.
Am Nachmittag unserer Silberhochzeit erreichen wir Heraklion auf Kreta. Eigentlich will ich dir nur ein paar Blumen kaufen, aber dann siehst du einen wunderschönen goldenen Armreif mit Widderköpfen und Einlagen aus farbiger Emaille. Wir handeln etwas vom Preis ab und ich hätte ihn längst gekauft, aber dir ist er noch zu teuer. Als du schon in der Tür bist, nennt man uns einen guten Preis und strahlend nimmst du mein Geschenk an. Auf der Straße fällst du mir um den Hals und küsst mich. Deine Freude über dieses herrliche Stück ist für mich das schönste Geschenk zu unserer Silberhochzeit.

1984

Im Frühjahr fliegen wir für zwei Wochen in den Senegal, wo wir eine interessante Rundfahrt mitmachen und in einem Club segeln lernen.
Mitte Juni fahren wir in die Normandie. Beim Baden und Sonnen in den einsamen Dünen ist es viel schöner, miteinander eins zu werden als im Zimmer oder Zelt. Nach einer Woche fahren wir ins belgische Ceran für einen Intensivkurs in Französisch. Über Reims, Dijon und die Route Napoleon kommen wir an die Cote Azure. Fünf Tage sind wir in einem Camp nicht weit vom Meer, wo jede Nacht eine Nachtigall singt. Dann geht es durch Italien und den Montblanc-Tunnel nach Savoyen und weiter nach Ludwigshafen.
Einmal fährst du im Regen von Ludwigshafen zurück. Hinter einer Kurve ist ein Stau. Rechts ist die Schlange kürzer. Du bremst und willst nach rechts, aber der Wagen rutscht weiter geradeaus. „Stotterbremse!“ rufe ich, und während dein rechter Fuß wie ein Maschinengewehr die Bremse bearbeitet, kannst du wieder lenken. Neben dem letzten Wagen kommen wir auf dem Standstreifen zum Stehen. Du bist ganz ruhig, und auf meine Frage, ob du weiter fahren willst, antwortest du „Natürlich!“. Ich weiß, wie gut du fährst. Abends im Bett kuschelst du dich an mich und sagst leise: „Das war gut, dass du mir vorhin geholfen hast mit dem Auto.“ Doch ich sage dir, dass ohne deine schnelle Reaktion meine ganze Hilfe nichts genutzt hätte. Es ist immer wieder eine beglückende Erfahrung, dass wir beide gemeinsam viel mehr als doppelt so stark sind wie einer allein.

1985

Nach einem Skiurlaub mit deiner Jiu-Jitsu-Gruppe in Österreich im Frühjahr fahren wir im Sommer in die Toskana. Nach zwei Tagen in Florenz und einer Woche bei Siena geht die Fähre nach Korsika. Wir schlafen auf Campings oder in Hotels und wechseln nach Sardinien. Über Oristano, wo die Gegend so einsam ist, dass wir uns in freier Natur einander hingeben können, geht es mit der Fähre wieder nach Livorno und nach zwei Tagen nach Amorbach zur Systemanalyse für die BASF.

1986

Mitte Juni fahren wir von Ludwigshafen auf den Zeltplatz bei Siena zum Malen. Auf Elba machen wir den Küstensegelschein (BR) und segeln zwei Wochen um die Inseln herum bis Korsika.
Im Herbst halte ich auf der Interkama einen Vortrag über meine Idee, gestörte Netzkomponenten durch das Leitsystem selbstständig erkennen und darstellen zu lassen. Zum Ende des Jahres wird die HEW umorganisiert und mir angeboten, zur CONSULECTRA zu wechseln. Als meine Bedingungen für eine jährliche erfolgsabhängige Prämie und einen zusammen hängenden sechswöchigen Sommerurlaub akzeptiert werden, gehe ich ganz in die Beratung.

1987

Bei der CONSULECTRA geht es gleich in die Vollen: Für die Stadtwerke Wiesbaden soll die Funktionsfähigkeit eines neuen, recht dubiosen Leitsystems beurteilt werden. Nach drei Wochen Skiurlaub in Savoyen beginne ich diese Arbeit und merke bald, dass ich eine Sisyphusaufgabe vor mir habe. Doch ich habe gelernt, ein komplexes Problem in überschaubare Detailprobleme aufzudröseln. So können wir den Hersteller zwingen, in Einzeltests alle Funktionen nachzuweisen, und erarbeiten Listen zu prüfender Eigenschaften. Ich bin in vielen Wochen von Sonntag bis Freitag in Wiesbaden. Du begleitest mich oft und fährst mit der S-Bahn nach Frankfurt.
Für sechs Wochen fliegen wir in die Türkei. Zuerst sind wir eine Woche in einem Club am Bafasee und machen Exkursionen in die alte griechische Kulturlandschaft der Westtürkei. Priene ist noch gut erhalten Es wurde auf einem Berghang auf kleinstem Raum errichtet, gilt trotzdem als die eleganteste der historischen Städte und hatte in seiner Blütezeit 5.000 Einwohner.  Wir gäben schon etwas dafür, jetzt in der Zeit zurück zu reisen und eine Aufführung mit den alten Bewohnern erleben zu können. Auf dem Rückweg halten wir zum Cay. Wieder sind wir unter lauter Männern, die so aussehen, als ob sie schon den ganzen Tag hier hocken.
Vier Wochen segeln wir auf einer Ketsch mit Skipper Uwe in den ausgedehnten Gökova Körfezi und dann um die Südwestküste des Landes fast bis Marmaris.
Heute führst du das Ruder und bringst uns in die Bucht, wo Ibrahim seine Kneipe hat. Uwe hat uns schon tolle stories über die abendlichen Gelage hier erzählt. Die Kneipe ist komfortabel und wird im Laufe des Abends proppevoll. 16 Boote liegen in der Bucht und alle Crews sind hier versammelt. Dazu kommt noch eine Menge türkischer Männer von wer weiß woher. Nach dem Essen tritt Ibrahim in Aktion. Zuerst tanzt er allein, dann fordert er dich auf. Die ganze Mannschaft schlägt den Takt. Es wird viel getanzt an diesem Abend und du wirst immer wieder aufgefordert. Ich freue mich, dass es dir Spaß macht. Ein besonders mutiger Türke tanzt sogar dazu mit dir auf einem Tisch, was hier als Gipfel der Verrufenheit gilt. Natürlich beobachte ich Euch, um dir notfalls zu helfen, aber die Sache ist völlig harmlos. Nach Mitternacht willst du in die Koje und ich merke, dass das Tanzen nicht spurlos an dir vorüber gegangen ist. Du drängst dich an mich, streichelst mich und küsst mich. Gerne zeige ich dir ganz zärtlich, dass dein Vergnügen an diesem Abend auch mir Freude gemacht hat. Außerdem bin ich stolz auf dich, dass du nicht nur für mich so attraktiv bist.

1988

Im Auguat fliegen wir nach Athen .Den ganzen Tag über durchstreifen wir die Stadt. Vier Stunden bleiben wir im Museum. Auf der Akropolis stehen wir ergriffen vor den schönen und imposanten Zeugen unserer frühen Kultur. Der halb zerstörte Parthenon-Tempel beeindruckt uns unwahrscheinlich. Diese kühne und leichte Architektur, diese handwerkliche Vollkommenheit findet man sonst nirgendwo auf der ganzen Erde. Tief beeindruckt steigen wir nach langem Aufenthalt hinunter und essen unter der Umfassungsmauer in einem Gartenrestaurant bei einem Glas Wein zu Abend. Hand in Hand schlendern wir dann zum Hotel, um immer noch bewegt von dem Gesehenen den Tag miteinander ausklingen zu lassen.
Ein Törn von 50 sm liegt vor uns. Das anfangs ruhige Wetter verschlechtert sich bald, EG hängt als Erster über der Reling. Schnell muss die Genua runter und kurz danach das Groß gerefft werden. Wir merken schmerzlich, dass unser Boot ein recht flaches Sportboot ist, das jede Welle mitnimmt. ... Bald geben schon vier das Essen von sich. Anne geht es noch gut, sie sagt: „Wenn dir beim Kotzen ein brauner Ring zwischen die Zähne kommt, schluck ihn wieder runter, das ist das Arschloch.“ Mir wird kalt und ich will mir etwas zum Anziehen holen. In der Kajüte erwischt es mich auch. Ich kann mir gerade noch eine Tüte schnappen. ... Im Salon liegen EG und Anne, zugedeckt wie Patienten. Ich versuche hoch zu kommen, doch mir wird dauernd wieder schlecht. Als ich zur Toilette will, sehe ich EG halb vor dem Becken liegen. Er hat es umklammert, um bei dem Schlingern nicht weg zu rutschen. Brigitte hat fürchterliche Angst. Schlafen ist nicht möglich wegen des irre lauten Motors.
Früh um 4:30 wird der Motor ausgeschaltet, nach 18 Stunden Fahrt machen wir an einer Mole in einem hell erleuchteten Fischerort fest.
In Akrothiri auf Santorin bewundern wir die ausgegrabenen Zeugen der Zeit vor der Vulkaneruption: Hauswände, Skulpturen, wunderschöne Fresken. Beim Abendessen sprechen wir über die griechischen Götter und EG erwähnt, dass Zeus oft andere Gestalt annahm, z. B. eine Frau als Goldregen schwängerte. Als ich sage, ich versuche mir das praktisch vorzustellen, lacht man am Nebentisch, dann der kleine Sohn: „Mama, warum lachst du?“ Der Vater antwortet: „Das erkläre ich dir, wenn du 18 bist.“ Neues Gelächter an den Tischen. Der „Goldregen“ beschäftigt uns noch die halbe Nacht. 
Die ganze nächste Nacht hindurch laufen wir mit Kurs 1800 bei raumem Wind von 5 bft und Vollmond auf Backbordbug. Ich schlafe, so gut es geht. Zunächst sind Andreas und Gerd oben, ich schlafe angezogen in Bereitschaft. Um 5 Uhr lösen wir die beiden ab. Es ist ein herrlicher Morgen für uns beide, kaum ein Schiff zu sehen. Frühstück nur Sesam und Cola, um 10 sehen wir die Insel Dia vor Heraklion, wir haben die Stadt genau getroffen. Um 12 Uhr sind wir am Kai fest, essen eine Kleinigkeit und hauen uns erst mal hin. Wir sind alle hundemüde.
Um 7 Uhr auf, wir trinken am Imbiss frisch gepressten Orangensaft, dann geht es in Serpentinen steil bergab . Es wird immer heißer, zum Glück gibt es überall Quellen. Wir haben uns Zitronen mit genommen, an denen wir lutschen. Trotzdem schütten wir uns an jeder Quelle Wasser über den Körper, eine Weile sind wir dann klitschnass. 18 km sollen es sein, jeder km wird durch einen Stein angezeigt. Ab und zu ruhen wir uns eine Weile aus. Später kommen wir in das Flussbett. Immer wieder müssen wir den Fluss über Stämme queren, steile Felswände türmen sich. Mir tun erst die Füße, dann die Knie weh vom abwärts Laufen. Endlich der erste Erfrischungsstand, wir nehmen sofort wieder frischen Orangensaft. Dann sehen wir zwischen den Bergen das Meer. Adjia Rumeli ist ein Dorf mit vielen Restaurants und vielen erschöpften Leuten. Es ist 14 Uhr. Ich spüre meine Knochen bis zur Hüfte. Nach dem Sitzen komme ich kaum hoch. Wir essen Salat und trinken viel. Nachdem wir die Schiffskarte erstanden haben, denn anders kommen wir hier nicht weg, baden wir. Die Kiesel am Strand sind so heiß, dass man Brandblasen kriegt.

1989

m Mai halte ich in Brighton einen Vortrag über die Darstellung von Mittelspannungsnetzen und bleibe mit dir anschließend drei Tage in London.
Im Sommer steht die Türkei wieder auf dem Plan. Wir fliegen nach Istanbul und nehmen uns fünf Tage für diese wirbelnde Stadt. In Ankara treffen wir die Reisegruppe von Studiosus, mit der wir zwei Wochen unterwegs sind. Das Nationalmuseum, Hattuscha, Konya, Kappopdokien und Antalya bekommen wir zu sehen. In Konya beschäftigen wir uns mit der Lehre Mevlanas.
Der Bus bringt uns nach Marmaris zum Segeln, eine Woche Auffrischungskurs in der Bucht und eine Woche Flottille von Fetye aus. Wir sind alleine auf einem 10-Meter-Boot und segeln jeden Tag selbstständig zum vorgegebenen Ziel. Die Eleganz, mit der du das Boot an den Steg bringst, während ich den Anker werfe, wird von den türkischen Fachleuten bewundert. Und wir haben viel Zeit nur für uns auf dem Boot. Im Restaurant philosophieren wir mit zwei Familien die halbe Nacht über Mevlana und religiöse Fragen.
Im Herbst musst du dir die Gebärmutter entfernen lassen und hast zuerst Schwierigkeiten beim Wasser lassen.

Frankfurt, den 10. 12. 89   Meine Liebe, Geliebte,            W
da ich nicht am Telefon mit Dir sprechen kann, will ich Dir einen Brief schreiben. Weißt Du, auf ein paar Tage mehr oder weniger kommt es überhaupt nicht an. Wichtig ist, dass Du Deinem Körper Ruhe lässt und Dir auch seelisch die notwendige Ruhe nimmst. Ich kann Deine Ungeduld gut verstehen, ich habe sie ja selbst. Doch es ist besser, wenn Du erst zum Wochenende raus kommst, weil ich dann zu Hause bin. Ich kann Dich abholen, Dich betreuen und pflegen.
Denk schon ein bisschen an den nächsten Urlaub. Zwar wissen wir noch nicht, wohin wir fahren werden, aber Sonne und warmes Meer werden bestimmt dabei sein. Stell Dir vor, wir schwimmen im Mittelmeer, dann werden Dir Deine Schwierigkeiten ganz unwirklich vorkommen. ich freue mich jedenfalls schon mächtig darauf, wieder mit Dir zusammen Ferien zu machen. Mit Dir zusammen zu sein, gemeinsam Schönes zu erleben, macht das Erlebnis mehr als doppelt so schön. Es ist, weil Du dabei bist, weil ich fühle, wie auch Du Dich freust und das Erleben genießt, weil ich Dich liebe.
Doch bald fahren wir nach Südtirol. Und wenn Du auch noch nicht so viel Ski laufen wirst, wird es trotzdem schön für uns werden, weil wir viel mehr Zeit füreinander haben als jetzt, wo wir uns nur jeden Tag eine Stunde sehen. Weißt Du, dass Du mir fehlst? Mit Dir zusammen zu sein – auch wenn wir abends nur nebeneinander sitzen und fernsehen – ist für mich die schönste Zeit des Tages. Zu wissen, Du bist da, Du bist für mich da und ich für Dich, Deine Nähe zu fühlen, ist schön und gibt mir die Kraft zu meiner anstrengenden Arbeit. Wenn ich Dir sage, dass Du ein Teil meines Lebens bist, der wichtigste und schönste, so ist damit nur ungenau beschrieben, was ich ausdrücken will, was ich fühle. – So, meine Liebe, nun werde ich noch einen Spaziergang machen. Ich wünsche Dir alles Gute, genauer gesagt, dass alles gut wird. ich liebe Dich und wäre viel lieber mit Dir zusammen. 
Ich küsse Dich ganz herzlich und denke viel an Dich, Dein Ernst-Günther

1990

Im Sommer fahren wir nach Jugoslawien, das wir noch gar nicht kennen. In Zadar treffen wir Andreas und nehmen unser Boot für einen zweiwöchigen Flottillentörn durch die Kornaten in Empfang. Diese Art zu segeln gibt uns die Freiheit eines eigenen Bootes und gleichzeitig die Sicherheit, bei Problemen in kurzer Zeit Hilfe zu bekommen.
Nach dem Törn verlässt Andreas uns und wir bewegen uns zeltend über die Inseln Rab, Cres und Krk weiter nach Norden. Eines Abends essen wir einen köstlichen Lammbraten mit dem auch hier vorzüglichen Rotwein dazu. Nach dem Essen bietet der Wirt uns Slibovic an. Mir ist die Portion zu groß, weil ich noch fahren muss, du trinkst meinen Rest aus und hast einen Schwips. Im Camp willst du noch schwimmen gehen. Wir baden nackend und nach dem Bad umarmst du mich stürmisch. Natürlich lasse ich mich auf den Kieseln des Strandes gerne von dir verführen.

Würselen, den 30. 7. 90 Meine liebe Karin, Geliebte            W
es ist so schade, dass ich heute nicht bei Dir sein kann an unserem Jahrestag. Vor dreiunddreißig Jahren haben wir unsere Gemeinschaft besiegelt und es ist für mich immer noch ein Wunder. So sitze ich nun alleine auf dem Balkon und denke an Dich und unseren gemeinsamen Urlaub in Jugoslawien. Wenn es noch eines Anstoßes bedurft hätte, meine ständige Arbeit so früh wie möglich an den Nagel zu hängen, so ist es dieser Urlaub mit Dir. Diese Wochen mit Dir waren wunderschön. Ich danke Dir von ganzem Herzen dafür, dass Du sie so schön gemacht hast. Mit Dir zu verreisen, ist immer ein Erlebnis und ich habe es stets genossen, doch dieser Urlaub gehört für mich zu den ganz besonderen. Sicherlich hinterlässt das gemeinsame Erleben den bleibenden Eindruck. Aber ich glaube, es ist mehr, und das liegt an Dir. Es ist so toll, dass Du alles mit machst. Dass wir zelten können, wo es am schönsten ist, und sei es ein FKK-Platz. Dass Dir das Segeln Spaß macht und Du es glänzend kannst. Dass Du interessiert bist, alte Kultur zu sehen. Dass man mit Dir auf einer Mauer sitzen und Musik hören kann. Dass Du immer zur Liebe bereit bist und Freude daran hast. Dass Du einen Sonnenuntergang schön findest.
Wir haben wohl das Glück, viele Interessen gemeinsam zu haben. Aber darüber hinaus meine ich, dass Du vielfach auf mich eingehst und wir uns daher so gut verstehen. Und dafür danke ich Dir ganz besonders. Deshalb freue ich mich auf die Zeit, wo ich Dich nicht jeden Morgen für einen Tag oder mehrere verlassen muss, sondern Zeit für Dich habe, besser – wo wir Zeit füreinander haben, viel mehr Zeit als jetzt. Es ist so vieles, was wir vernachlässigt haben, weil mir in der Woche die Spannkraft dafür fehlt: Zum Beispiel die Theaterbesuche. Oder das Bummeln in der Stadt. Oder einfach das gemeinsame Spazieren gehen. Auch an das gemeinsame Lernen, wie im Silberschmiedekurs erinnere ich mich gerne. Solche Aktivitäten und anderes mehr können wir – müssen wir – wieder anfangen. Und ich freue mich darauf, sie mit Dir zusammen anzufangen. Natürlich werden wir reisen – mehr als jetzt. Wir werden Länder und Gegenden wieder besuchen, die uns gut gefallen haben, und andere Länder neu kennen lernen. Und ich wünsche uns, dass wir noch viel Zeit miteinander haben und diesen – unseren – Jahrestag noch oft miteinander feiern können. Das „miteinander“ ist wichtig.
Meine Karin, ich liebe Dich über alles und Du bist mein Leben! Ich küsse Dich von Herzen Dein Ernst-Günther

Im November besuchen wir mit Andreas ein Tierarztpaar bei Dresden, deren Tochter er beim Fall der Mauer kennen gelernt hat. Sie zeigen uns die Stadt und gehen mit in die Semperoper. Dann fahre ich mit meinem CONSULECTRA-Kollegen auf eine Werbetour durch die ostdeutschen EVU. Zwischen Frankfurt und Berlin geraten wir auf vereister Straße ins Schleudern und rutschen zwischen zwei Bäumen hindurch auf den Acker. „Bist du okay“, fragt der Kollege. „Ja“, sage ich, „du musst aber nicht glauben, dass ich den Wagen bewusst zwischen den Bäumen hindurch gelenkt habe.“ Ein Trecker zieht uns auf die Straße und wir sind noch pünktlich bei der Reichsbahn in Berlin.

1991                                                                                                                                            Literaturverzeichnis        Seitenanfang

Meinen 60. Geburtstag feiern wir bei herrlichem Wetter auf der Terrasse. Viele Kollegen sind gekommen. Nach einer zärtlichen Nacht beschwerst du dich scherzhaft, du hättest schon lange keinen Liebesbrief von mir bekommen.

Frankfurt, den 25. 4. 91                                   W
Geliebte, Du hast Recht: schon lange habe ich Dir keinen Liebesbrief mehr geschrieben. So soll dieser ganz besonders schön werden. Dass ich Dich über alles liebe, habe ich Dir oft gesagt und es wird durch die Wiederholung nicht weniger wichtig für mich. Du bist und bleibst der wichtigste und schönste Teil meines Lebens. Ohne Dich wäre es unendlich viel ärmer und öder. Seit wir uns vor 35 Jahren gefunden haben, weiß ich das und es war immer so, auch wenn es für Dich manchmal nicht so aussah. Doch ich glaube, ich habe Dir nie gesagt, warum ich Dich so sehr liebe. Das will ich jetzt nachholen:
Da ist als Erstes Deine unverbrüchliche Liebe, die Du mir schon nach einem dreiviertel Jahr bewiesen hast, als ich meinen Fuß verlor. Ich weiß nicht, was aus mir geworden wäre, wenn Du mich damals verlassen hättest. Doch auch danach hast Du sie mir immer wieder bewiesen, selbst wenn ich sie nicht verdient hatte. – Liebe ist auch Erotik. Mit Deiner stetigen Zärtlichkeit, Deinen innigen Küssen, Deiner Freude an der Vereinigung mit mir und Deiner völligen Hingabe dabei hast Du mich immer wieder unendlich glücklich gemacht, auch wenn Du wenig darüber gesprochen hast. Und hier kann ich Deine Treue ansprechen. Ich konnte stets sicher sein, dass Du nie tun würdest, was ich Dir vor über zwölf Jahren angetan habe.
Deine Schönheit ist einzigartig. Du warst für mich vor 35 Jahren das schönste Mädchen der Welt und bist immer noch die schönste Frau. Deine Figur hat sich trotz der Schwangerschaften kaum verändert und obwohl Du wenig Kosmetik anwendest, ist Dein Gesicht schön und Deine Haut frisch wie eh und je. Kein Mensch glaubt Dir Deine 55 Jahre. Dein stets natürlich gepflegtes Aussehen, selbst nach schwerer Gartenarbeit oder einer wilden Nacht begeistert mich jeden Tag.
Du bist eine großartige Kameradin. Mit Dir kann man Pferde stehlen gehen. Was wir zusammen unternommen und erlebt haben, ist so unglaublich, dass viele Männer es nicht mit gemacht hätten. Deine Freude, etwas Neues zu erleben, hat mich oft mit gerissen.
Ich liebe Deine Ausgeglichenheit, Dein stets fröhliches Wesen. Wenn ich belastet von Problemen nach Hause kam, hast Du mich schnell wieder aufgebaut, indem Du die Probleme anhörtest und in die richtige Größenordnung einstuftest. Oft hast Du Lösungen vorgeschlagen. Und wenn wir über etwas unterschiedlicher Meinung waren, hast Du stets darauf geachtet, dass unsere Liebe nicht darunter litt, indem Du sachlich bliebst, selbst wenn ich in Emotionen verfiel.
Ich weiß nicht, womit ich Dich verdient habe. Aber Ich danke Gott, dass ich Dir damals begegnet bin und danke Dir, dass Du mich angenommen und bis jetzt zu mir gehalten hast. Ich freue mich mächtig, dass ich künftig mehr Zeit für Dich habe und Dir meine Liebe stetig beweisen kann. Als Erstes liegen vier herrliche Monate vor uns, die mit Dir ganz besonders schön sei werden. Hab Dank, Geliebte!
Ich küsse Dich (morgen Abend richtig),  Dein Ernst-Günther

Ende Mai gibt die CONSULECTRA eine große Abschiedsfeier für mich. Alle Leittechnik-Hersteller, die meisten Kunden und viele Kollegen sind gekommen. Reden werden gehalten, in denen man mich über den grünen Klee lobt. In meiner Antwort danke ich zwei Menschen, meinem langjährigen Mentor und Chef Abel und vor allem dir. Dass du einen wesentlichen Anteil an meinem Weg und Erfolg hast und dass ich dir dafür unendlich dankbar bin, sollen ruhig einmal alle hören. Dann überreiche ich dir rote Rosen und küsse dich vor allen Gästen. Großer Beifall bestätigt meine Worte.
Drei Tage später ist mein letzter Arbeitstag. Wir haben schon abends die Rucksäcke am Hauptbahnhof deponiert. Nachdem ich im Büro Brötchen und Sekt spendiert habe, verlasse ich ohne Bedauern diese Stätte eines langen erfolgreichen Wirkens. Denn ich kann jetzt mit dir, die ich über alles liebe, vier Monate ununterbrochen zusammen sein. Wir fahren im Liegewagen nach Venedig, wo wir uns mit großem Interesse die Ausstellung über die Kelten in Europa ansehen und gehen abends an Bord des türkischen Schiffes, das uns in drei Tagen nach Antalya bringt. Wir haben die Luxuskabine gebucht und staunen nicht schlecht, darin ein veritables king size Bett vorzufinden. Wir nutzen es ausgiebig auf dieser schönen, erholsamen Seereise.
Von Antalya fahren wir mit dem Bus nach Westen. Nach Nächten in Kas und bei der Lagune Ölü Deniz gehen wir Samstag in Marmaris auf das Mitsegelschiff.  Nach zwei Wochen sind wir wieder in Marmaris
Dann geht es weiter nach Adana, wo wir die Studiosus-Reisegruppe treffen. Die nächste Nacht verbringen wir in einem kleinen Bergdorf, wo wir auf der Terrasse schlafen. Die Nacht unter dem Sternenhimmel ist ein besonderes Erlebnis. Ein bleibender Eindruck ist auch der Sonnenaufgang bei den Götterfiguren des Nemrut Dagh.
Am Vansee bleiben wir vier Tage, fahren in die Berge und kaufen einen Kelim. Einen halben Tag besichtigen wir den fantastischen Ishak Pascha Palast aus dem 17. Jh. In Erzurum, einer sehr frommen Stadt, besiehst du die Auslagen eines Goldschmiedes. Zwei verschleierte junge Frauen kommen dazu und verständigten sich kichernd mit dir über die Schmuckstücke. Durch Teeplantagen fahren wir hinab nach Trabzon und fliegen von dort nach Istanbul. Mit Besichtigungen von Bauwerken, die wir noch nicht kennen, geht nach drei Wochen die Rundreise zu Ende.
Edirne und Canakkale erreichen wir mit Bus und Fähre und bleiben ein paar Tage. Nach dem Besuch von Troja und dem Museum geht es weiter, um von Ayvalik nach Lesbos zu kommen. In einer miesen Absteige bekommen wir ein Zimmer. Nach zwei Monaten ist die erste Hälfte unseres Abenteuerurlaubs vorbei, doch die zweite wird nicht weniger abenteuerlich.
Auf Lesbos finden wir an der Südküste in Plomarion ein nettes Hotel. Nach vier Tagen in Sigrion an der Westküste fahren wir nach Mythimna im Norden. Hier treffen wir zum ersten Mal eine ganze Menge Touristen. Es gibt einen schönen Badestrand mit einem kleinen, recht freizügigem FKK-Bereich.
Auf Chios bringt uns eine Taxe nach Pirgi. Wir mieten uns Mopeds, auf denen wir die Insel erkunden. Einmal stockt mir der Atem, als du vor mir ohne zu bremsen über eine breite Rinne im Asphalt fährst, die du nicht gesehen hast. Ich sehe dich schon mit gebrochenen Knochen auf der Straße liegen, aber irgendwie schaffst du es, ohne Sturz drüber zu kommen. Als wir danach anhalten, umarme ich dich erst einmal glücklich.
In Patmos wird es abenteuerlich, denn anders als bisher sind alle Unterkünfte ausgebucht. Allmählich begreifen wir, dass Patmos mit dem Johanneskloster eine der heiligsten Stätten des Landes ist und der Kalender gerade Mariä Himmelfahrt anzeigt, einen der höchsten Feiertage der orthodoxen Kirche. Wir wollen am Strand eine Schlafstelle suchen, doch im Campingplatz gibt es eine Sandkuhle für Leute wie uns. Mit Bastmatten richten wir unser „Bett“ ein. Abends diskutieren wir mit jungen Leuten aus ganz Europa die halbe Nacht über Gott und die Welt. Am nächsten Tag besuchen wir das eindrucksvolle Kloster und erfahren, dass am folgenden Morgen ein Boot nach Kalymnos geht. Auf Kalymnos finden wir ein ordentliches Hotel, von wo aus wir per Bus die schönsten Stellen der Insel besuchen. Einen Tag verbringen wir auf einer kleinen Nebeninsel mit frisch geschossenem Bergziegenfleisch zum Mittag. 
Das nächste Ziel ist Kos. Wir fahren zunächst nach Kephalos an der Südwestspitze. Die Paradissos-Bucht ist zauberhaft, klares Wasser, breiter Sandstrand, FKK üblich und wenige Leute. Wir bleiben den ganzen Tag und nutzen eine unbeobachtete Stelle hinter Büschen für uns ganz persönlich. Nach zwei Nächten fahren wir in die Hauptstadt und wohnen in einer Pension. Auf Fahrrädern erkunden wir Insel. Das Asklepion und die Mosaiken sind den Ausflug wert.
Nach vier Tagen geht es weiter nach Tilos, einer kleinen einsamen Insel. Ein Hotel mit wunderschönem Blumengarten nimmt uns auf. Eines Morgens machen wir uns mit meiner Badeprothese auf den Weg zu einer einsamen Bucht. Nach einer Weile will ich umkehren, doch du entdeckst Markierungen aus aufeinander geschichteten Steinen, die einen Steig bis hinunter in die Bucht zeigen. Dort sind wir ganz alleine und nutzen es auf unsere Weise.
Auf Rhodos mieten wir einen Wagen und fahren die Ostküste hinunter. In Lardos machen wir Station, um Lindos zu besichtigen, In Gennardion essen wir bei einer alten Frau ein köstliches Fischgericht. In Kattavia bewundern wir die Surfer. Das Tal der Schmetterlinge in Petaloudes ist ein Erlebnis und die Ruinen von Kamiros zeigen uns, wie man vor 2.600 Jahren gebaut hat. Nach einer weiteren Nacht in der Stadt fliegen wir nach Athen und fahren von Piräus durch die Straße von Korinth nach Ancona. Die Fahrt durch den Kanal ist ein Erlebnis, auf jeder Seite bleiben nur wenige Zentimeter.
Das war die längste, abenteuerlichste, schönste, eindrucksvollste Reise, die wir je gemacht haben. Wir beide haben sie mit allen Sinnen genossen. Und jeder ist dem anderen dankbar, dass wir solche tollen Reisen gemeinsam unternehmen können.

1992

Das Skigebiet im österreichischen Saalbach-Hinterglemm ist weitläufig, und wir genießen die erste Woche bei schönem Wetter. Danach stürzt du und die Untersuchung im Krankenhaus zeigt einen Kreuzbandabriss im rechten Knie. Nach einer Woche, in der ich vormittags alleine Ski laufe und dich nachmittags besuche, fliegt der ADAC dich nach Hamburg und ich fahre mit dem Autozug nach Hause. Erst Mitte Mai wird in Hamburg entdeckt, dass die Schraube, die die Österreicher eingesetzt hatten, das Knie blockiert.

Gegeben am 1. 6. 92   Meine Liebe, Geliebte,            W
... Ich finde es schade, dass ich Dich nicht besuchen und mich mit Dir über Deine Fortschritte beim Knie bewegen freuen kann. Wenn es so weiter geht, kannst Du bald wieder alles machen. Mir geht immer noch Deine Bemerkung im Kopf herum, ob ich Dich denn überhaupt noch liebe, wo Du mir so viele Umstände machst. Das eine hat doch mit dem anderen gar nichts zu tun. Liebe heißt doch, füreinander da zu sein, wenn einer den anderen braucht. Und dass ich immer für Dich da sein will und sein werde, hat für mich nie in Zweifel gestanden, seit wir uns 1956 nahe gekommen sind. Dass Du genau so denkst, hast Du mir damals schon nach acht Monaten bewiesen. Also, was uns auch noch in unserem Leben passieren sollte: Ich werde Dich immer lieben und für Dich da sein. Für Dich und mit Dir gemeinsam etwas zu tun, ist Freude für mich. So ist z. B. das gemeinsame Mittag-Bereiten für mich eine Freude. Es ist schön für mich, mit Dir zusammen zu sein oder zusammen etwas zu tun. Du bist nun einmal der bei weitem wichtigste Teil meines Lebens, und ich habe Dir ja schon öfter gesagt, dass ich überzeugt bin, mit keiner anderen Frau so glücklich hätte sein zu können wie mit Dir. (Der Satz ist etwas verunglückt, aber Du verstehst mich.)
Dass Du mir fehlst, brauche ich Dir nicht zu sagen. Selbst in Deinem augenblicklichen Zustand gehemmter Beweglichkeit hätte ich Dich viel lieber zu Hause. ... Morgen Nachmittag fliege ich nach Nürnberg und fahre gleich nach Erlangen. Übermorgen geht es dann nach Hamburg zurück. Wenn ich einigermaßen pünktlich ankomme, will ich auf jeden Fall noch bei Dir rein schauen, besonders, weil ich ja keine Möglichkeit habe, Dich wenigstens telefonisch zu sprechen.
Nun meine Liebe, wünsche ich Dir weiter gute Fortschritte und freue mich, Dich bald wieder zu sehen. Sei von Herzen geküsst von Deinem Ernst-Günther. Ich liebe Dich!

Anfang November fliegen wir für vier Wochen nach Zypern ins Apollonia Hotel. Das Meer ist noch so warm, dass wir täglich schwimmen können. Auf geführten Touren und mit dem Bus erkunden wir die reichhaltigen Kunstschätze dieser schönen Insel. Für drei Tage unternehmen wir eine Schiffstour nach Israel und sehen die Altstadt von Jerusalem, die Klagemauer und die Geburtskirche in Bethlehem. Doch gerade hier wird uns die muffige Enge der meisten Religionen klar. Der Muslim, der stolz seine weiße Hadschmütze trägt, der streng gläubige Jude mit Hut und Schläfenlocken, der bärtige Priester, der die Ikone küsst, sind gleichermaßen Beispiele einer verbohrten Religiosität, in der nicht der Glaube wichtig ist, sondern nur das Erfüllen kruder Regeln.

1993

Peter, der seit einigen Jahren in Sydney arbeitet, lädt uns zu einem Besuch ein. Die erste Etappe unserer achtwöchigen Reise ist ein 21-stündiger Flug nach Perth, der sich wegen der Zeitverschiebung über drei Kalendertage erstreckt. Perth ist eine hübsche Stadt mit ausgedehnten Vororten. Nach zehn Tagen fliegen wir weiter nach Adelaide und übernehmen von Peters Sohn einen VW-Bus. Mit deiner wachsamen Hilfe gewöhne ich mich schnell an das Fahren im Linksverkehr. Nach einer Woche erreichen wir Sydney. Auch in dieser schönen Stadt sehen wir viel, klönen abends lange mit Peter und Armgart und laden die beiden an einem Abend in die weltbekannte Oper ein. Zur Erinnerung kaufe ich dir einen Ring mit einem unregelmäßig geschnittenen, tief blaugrün leuchtenden Boulder-Opal, wie sie in Australien gefunden werden. Eine Woche bleiben wir bei unseren freundlichen Gastgebern, dann bringen sie uns morgens zum Bus 
Von Cairns aus besuchen wir das Great Barrier Riff und schnorcheln über den bunten Korallen und Fischen. Nördlich Cairns sind wir für eine Woche in einem Ressort. Das Apartment ist eine richtige Wohnung mit drei Zimmern. Die Kleiderschränke haben Spiegel auf den Türen, so dass wir uns bei der Liebe zusehen können.
Weiter fliegen wir nach Darwin, der Stadt im fast tropischen Norden und machen Touren in die Nationalparks, verbunden mit Bootsausflügen. Der Höhepunkt ist der Flug mit einem Viersitzer auf eine Aborigine-Insel. Mit den Ureinwohnern suchen wir Schildkröteneier, Muscheln und Würmer aus toten Bäumen. Bis auf die Würmer schmecken die Funde. Schwimmen ist wegen der Krokodile nicht möglich. Als du einen Strandspaziergang machst, beobachtete ich dich mit dem Fernglas. Stolz bringst du einen Nautilus mit.
Ein paar Wochen später heiratet Barbara. Wir haben ein ganzes Waldhotel an der holländischen Grenze gemietet, und es wird eine rauschende Feier mit vielen Gästen aus dem Nachbarland. „Das war die schönste Hochzeit meines Lebens“, sagt unsere Tochter, als sie sich mit ihrem Mann zur Hochzeitsreise nach Irland verabschiedet.
Am 13. 8. reisen wir mit dem Autozug nach Lörrach und fahren weiter in das Sirenencamp bei Agde. Doch die FKK-Szene ist freizügiger geworden. Einige Paare praktizieren in aller Öffentlichkeit Petting und Fellatio und viele schauen zu. Wir haben uns ja schon oft im Freien geliebt aber nie derart präsentiert. Du magst dieses bewusste zur Schau stellen von Sex nicht. So verziehen wir uns ins Zelt, wenn uns nach Liebe zumute ist. Nach zwei Wochen fahren wir weiter nach Spanien. Über Tossa del Mar, Barcelona, und Cartagena kommen wir zu unserem südlichsten Ziel, Granada mit der traumhaften Alhambra. Zurück geht es ins Elsass, wo wir uns nach einer Ferienwohnung umsehen. Nach einigem Suchen mieten wir eine schöne Wohnung mit großem Wohnzimmer im Dorf Steinenstadt, das zu Neuenburg am Rhein gehört.
Schon nach sechs Wochen sind wir wieder dort. Vier Wochen fahren wir umher und suchen Möbel aus. Über die Kücheneinrichtung gibt es harte Diskussionen, weil ich manche deiner Wünsche nicht einsehe, doch du setzt dich durch.

1994

Mitte Januar sind wir wieder in Steinenstadt, um die bestellten Möbel in Empfang zu nehmen. Ingrid, die mit ihrem zweiten Mann im Nachbarort zur Kur ist, besucht uns. Wir kommen auf die Stellung der Partner in der Ehe. „In einer Gemeinschaft kann nur einer die Richtung vorgeben“, meinst du wie selbstverständlich, „wenn beide das wollen, gibt es ständig Streit. Das darf nicht heißen, dass der eine seine Meinung durchsetzt und der andere nur zu folgen hat. Nein, gegen den erklärten Willen des anderen darf nichts gehen. Alternativen müssen diskutiert werden und beide müssen bessere Wege erkennen und akzeptieren. Und sicherlich gibt es auch Felder, in denen der andere auf Grund seiner Erfahrung die Richtung vorgeben sollte, z. B. in der Haushaltsführung.“ Ich habe mit dir nie über dieses Thema gesprochen. Zum ersten Mal höre ich deine Ansicht dazu, und erst jetzt wird mir klar, warum unsere Gemeinschaft so fabelhaft funktioniert hatte. Du hast dich mir anvertraut, aber uns immer vor Irrwegen bewahrt, du großartige Frau voller Weisheit!

1995

Um Barbara bei der Entbindung zu helfen, fährst du Anfang Januar nach Holland, wo sie und Jeroen jetzt dicht an der deutschen Grenze wohnen. Am 3. Februar wird Nadine zu Hause geboren. . Im März sind wir wieder in Steinenstadt, von wo du für zwei Wochen zu einem Malkurs nach Kreta fliegst.
Im Juli fahren wir nach Genova. Zwei Tage haben wir Zeit, die Stadt zu erkunden, bis das Schiff nach Korsika geht. Vier Tage zelten wir bei Ajaccio. Um uns herum sind lauter junge Paare, die sich nachts einander hingeben. Gerne lassen wir uns anstecken und freuen uns, dass wir noch jung genug dazu sind. Am letzten Tag essen wir in Bastia auf dem Marktplatz. Plötzlich erschallt aus einer Seitenstraße eine MP-Salve. Viele Leute werfen sich auf den Boden, ich kann dich überzeugen, dass die Separatisten den Touristen nichts tun. Am nächsten Morgen hören wir, dass Terroristen sich gegenseitig umgebracht haben. In Genova willst du noch in die Toskana fahren. Wir nutzen die Tage, um die schönen kleinen Städte wieder zu sehen.
Mitte Dezember heiratet Andreas Lydia, die er während eines Urlaubs auf San Lucia kennen gelernt hat. Sie ist im Sommer mit einem kleinen Jungen nach Hamburg gekommen und inzwischen von Andreas schwanger. Kyria ist zufällig auf Besuch und das Fest im Haus wird eine große Fete.

1996

Die CONSULECTRA hat aus Thailand eine Anfrage für ein Seminar über Netzleittechnik erhalten und ich schreibe ein Angebot. Wir beide wollen Thailand kennen lernen und machen Anfang April vor dem Seminar eine zweiwöchige Rundreise durch den Norden des Landes. Besonders gut gefällt uns Chiang Mai.
Anschließend wollen wir zehn Tage in Hua Hin bleiben. Der Zug fährt eine Kuh tot und wir stehen fünf Stunden, bis eine Ersatzlok aus Bangkok kommt. Das Hotel ist ein Gedicht. Ein Paradiesgarten mit zwei Pools, dahinter der Meeresstrand, ein fantastisches Frühstücksbuffet auf der Terrasse, alles zum Wohlfühlen. Abends sehen wir die Lichter der Fischerboote auf See und beobachten im Hafen die Fischer.
Im November fragt die CONSULECTRA, ob ich für zwei Jahre nach Bangkok gehen will. Zu meiner großen Freude sagst du, dass du mit kommen willst. Liebste, mit dir kann man Pferde stehlen! Doch erst einmal fliegen wir für zwei Wochen in ein Hotel auf Gomera. Wir baden viel und bleiben eine weitere Woche auf Teneriffa.

1997

Bei der PEA habe ich ein eigenes Büro mit Sekretärin und einen Wagen mit Fahrer. Für das Netzplanungstraining wähle ich die Stadt Chiang Mai. Eine Sachbearbeiterin besorgt mir ein Apartment am Central Plaza mit einem riesigen Wohn- und Esszimmer, vier Schlafzimmern mit Bädern, von dem eines als Arbeitszimmer eingerichtet ist, einer großen Küche, vier Balkons und einem Mädchenzimmer. Nach fünf Wochen ziehe ich um, kaufe das Notwendigste an Geschirr und fühle mich wohl. Doch obwohl wir oft miteinander telefonieren, merke ich erst hier, wie sehr du mir fehlst.
Im April bin ich mit vielen PEA-Führungskräften drei Tage lang in Hua Hin zur Projektplanungs-Tagung. Noch in der Nacht fliege ich nach Hamburg und wir feiern wie im Rausch unser Wiedersehen. Elf Wochen waren wir noch nie getrennt. Nach zwei Wochen fliegen wir gemeinsam nach Bangkok und bald kaufen wir ein: Tisch- und Bettwäsche, Geschirr und Besteck, Korbmöbel für den Balkon, Leuchten und viele Kleinigkeiten, die unsere Wohnung gemütlich machen. Beim nächsten Besuch in Chiang Mai nehmen wir hübsche Handwebstoffe mit, die die scheußlichen Gardinen im Wohnzimmer ersetzen.
Zweimal sind wir beide privat in Pattaya im Royal Garden Resort. An einem Abend veranstaltet das Hotel ein Open-Air-Buffet im Garten vorzüglich zubereitetem Seafood, wohlschmeckenden Fleischspezialitäten und als Dessert köstlichen Früchten und Süßigkeiten. Nach dem Essen spielt die kleine Thai-Kapelle Tanzrhythmen und wir genießen es, nach langer Zeit wieder miteinander zu tanzen. In der Nacht setzen wir diese herrliche Gemeinsamkeit noch lange fort.
Immer wieder bewundern wir die tiefe Frömmigkeit der Thais. Wir sehen junge Paare Hand in Hand in den Tempel kommen, vor dem Buddha knien und beten. Als wir uns mit seiner Lehre beschäftigen, stellen wir erstaunt fest, dass er schon 600 Jahre vor Christus einen großen Teil von dessen Predigten vorweg genommen hat. EinAls Kurzzeitexperten für den Netzbetrieb habe ich Heiner Schüchler gewählt, der früher Netzbezirkleiter war. Wir laden ihn und Frauke nach Hause ein. Durch die lange gemeinsame Arbeit entsteht eine nette Atmosphäre, so dass wir spontan beschließen, uns zu duzen. Am ersten Weihnachtstag kommt Andreas mit seiner Familie zu Besuch. Ich habe Urlaub und wir zeigen ihnen die Stadt.

1998

Das Songkhran-Fest und meinen Geburtstag kann ich mit einem Aufenthalt in Chiang Mai verbinden. An meinem Geburtstag laden wir die beiden Thai-Partner zum Essen auf einem Restaurantschiff ein. Freitag früh fliegen wir zurück, ich arbeite im Büro das liegen Gebliebene auf, während du die Sachen packst. Abends fliegen wir nach Penang zu einem zweiwöchigen Malaysia-Urlaub. Vier Tage bleiben wir auf der Insel und essen an einem Abend einen köstlichen Hummer in einem kleinen Restaurant am Ende der Welt. Mit dem Bus fahren wir nach Kuala Lumpur, wo wir fünf Tage bleiben. Die letzte Station ist Melakka. Nach drei Tagen am Meer fliegen wir nach Bangkok zurück.
Am 8. 5. fliegen wir nach Deutschland, wo ich eine Gruppe Thais betreue. Am 4. Juni fliege ich wieder nach Bangkok, während du noch eine Weile in Hamburg bleibst.
Kyria ist unversehens schwanger geworden, wir wollen sie und Leonard im August besuchen. Im Dreieck tauschen wir untereinander und mit ihr E-Mails aus. Am 28. 7. kommst du an und wir feiern unser stürmisches Wiedersehen, kaum dass wir in der Wohnung sind. Erst spät merken wir, dass wir Hunger haben. Am nächsten Abend geht der Flug nach Seattle. Kyria und Leonard zeigen uns am Wochenende die Umgebung.
Der erste Tag im Mietwagen führt uns beide zum vor einigen Jahren explodierten Mount St. Helens .
Über die Golden Gate Bridge fahren wir nach San Francisco. Vier Tage bleiben wir in dieser Stadt, besichtigten das Chinesenviertel und Fisherman’s Wharf. Nach einem Abstecher in das hübsche Sacramento mit seinem Westernflair bleiben wir vier Tage im Kings Canon und Sequoia National Park. An einer abgelegenen Straße sehen wir eine Bärin mit ihrem Jungen. Eine Nacht verbringen wir bei Santa Barbara, wo der Pazifik so warm ist, dass wir zum ersten Mal schwimmen können.
In Los Angeles sind wir enttäuscht von der sterilen ausgestorbenen Innenstadt, bis wir den großen lebendigen mexikanischen Bezirk entdecken. Nach zwei Tagen fliegen wir nach Seattle und sind eine Woche mit Kyria und Leonard auf der Olympic-Peninsula unterwegs. Wir zelten an kleinen Seen im Nationalpark, wandern und steigen auf Berge, es ist eine schöne Naturreise mit den beiden. Am 6. 9. landen wir wieder in Bangkok.
Bei der Einweihung des von der GTZ gestifteten Trainingszentrums gehörst du zu den Ehrengästen. Die GTZ stellt Geld für das nächste Jahr bereit, von dem ich mir einen Anteil sichern will. Ich verfasse einen ausführlichen Bericht für die PEA, der neben den Ergebnissen Empfehlungen enthält, und schreibe den Abschlussbericht für die GTZ, in dem ich für die weitere Arbeit eine Kostenbeteiligung vorschlage.
Anfang November kommen Heiner und Frauke, und am Wochenende besuchen wir vier den Angkor Wat in Kambodscha. Es ist ein gewaltiger Eindruck, der alle Tempel dieser Region in den Schatten stellt. Was hier vor 1.000 Jahren an schönen und mannigfaltigen Reliefs geschaffen wurde, ist einzigartig.
Vor einer Reihe von Führungskräften präsentiere ich meinen Bericht. Sie sind so davon angetan, dass ich als erste Aufgabe des Zusatzauftrages eine Präsentation vorbereiten soll. Abends gebe ich meine Abschiedsparty im Dairy Queen. Reden werden gehalten und ich antwortete, dass ich die zwei Jahre als i-Punkt auf meiner Berufslaufbahn ansehe. – Da ich noch Urlaub habe, endet meine Tätigkeit am 14. Dezember. Am nächsten Tag fliegst du nach Seattle, wo Kyria in diesen Tagen ihr Kind erwartet und du ihr helfen willst. Das Apartment haben wir bis Mitte Januar.

Seattle, den 21. 12. 98   Hallöchen, mein Lieber!                   W
Mag sein, dass der Weihnachtsmann Babys verteilt, der Klapperstorch würde sich die Füße abfrieren. Das Baby hat noch keine Lust. ... Der Flug nach Vancouver war so gut wie nie zuvor, 1. Klasse statt Business. .... Dafür hatten wir nach Seattle eine abenteuerliche Kiste mit Beulen und undichten Schweißnähten. – Ganz liebe Grüße, Dir, Ernst-Günther. Ich telefoniere, wenn anderes nicht möglich ist. Herzlich, Deine Karin

Bangkok, den 30. 12. 1998 Hallo, meine liebe Karin             W
nett, mal wieder etwas von Dir zu lesen, nachdem es am Freitag schon schön war, Deine Stimme zu hören. Ich sortiere die Sachen für Hamburg, Bali, für hier bei der PEA und den Mülleimer. Heute kommen die Umzugskartons. ... Sei ganz herzlich gegrüßt und geküsst, meine Liebe, ich freue mich schon unbändig, dass Du in elf Tagen wieder bei mir bist, Dein Ernst-Günther

Silvester wird Kyrias Tochter Aiyana geboren.

1999

Aus dem Anschlussauftrag erreiche ich neun Wochen Tätigkeit. Die ersten fünf Wochen lege ich unmittelbar hinter unsere sechswöchige Indonesien-Reise, so dass wir zwischendurch nicht nach Deutschland müssen. Ich stelle Arbeitskreise mit vorbereitenden Aufgaben zusammen und beginne den Kriminalroman „Jade und Diamanten“, der hier im Lande spielt. Am 11. 1. kommst du zurück und wieder genießen wir unsere Gemeinschaft. Am 12. ist die offizielle Farewell-Party der PEA für mich. 
Am 15. geben wir die Wohnung zurück und fliegen für eine Woche in ein Strandhotel auf Bali. Von dort aus machen wir eine einwöchige Tour auf Nordsumatra mit. Besonders eindrucksvoll ist der Besuch einer Orang-Utan-Station, wo wir die Fütterung wild lebender „Waldmenschen“ beobachten können. Gleich danach beginnt eine zweiwöchige Tour über fünf Inseln. Höhepunkte sind der buddhistische und der hinduistische Tempel bei Yogjakharta und eine zweitägige Flussfahrt auf Kalimantan mit Besuchen abgelegener Dörfer. Dann folgt eine einwöchige Tour über Bali. Wir sehen einen riesigen Hindutempel, die Künstlerkolonie in Ubut und schwimmen im Meer. Der Höhepunkt ist eine Schlauchbootfahrt auf einem mäßig wilden Fluss. 
Weil wir die kleinen Sundainseln noch sehen wollen, buchen wir für die letzte Woche die Landtour. Eindrucksvoll ist nur die Insel Komo mit ihren Riesenwaranen, von denen uns einer direkt über den Weg läuft.
Ostersamstag landen wir in Hamburg, Am 21. Juni steigen wir abends in den Autozug nach Lörrach, um unsere lang ersehnte Frankreichreise anzutreten. Über die Route Napoleon kommen wir an den Lac de Ste. Croix und zelten dort zwei Tage. Wie vor 18 Jahren fahren wir die Schlucht des Verdon entlang und bewundern die gewaltigen Felsformationen. Drei Tage verbringen wir im Luberon und frischen in den Bergdörfern alte Erinnerungen auf. Besonders der Glockenturm in Lacoste, den wir beide vor 18 Jahren gemalt haben, gefällt uns wieder. Über Saintes, Cognac und Nantes schlagen wir uns an die Loire durch. Wir zelten insgesamt acht Tage an drei verschiedenen Stellen und sehen uns viele der schönen Schlösser und Städte an. Am meisten beeindruckt uns das Schloss Chenonceau, in dem Diane von Poitiers mit ihrem Geliebten Henri II gelebt hat, bis er bei einem Turnier versehentlich getötet wurde. Über Le Mans, wo du mich vor einem Auffahrunfall bewahrst, machen wir einen langen Schlag nach s’Hertogenbosch in Holland und weiter über Gronau nach Hause.
Ende September fliegen wir wieder nach Bangkok und ich präsentiere die Ergebnisse der Arbeitsgruppen. Zu deinem Geburtstag fahren wir nach Pattaya, ruhen uns aus, essen vorzüglich auf der Terrasse des Nang Nual und besuchen die Transvestitenshow. Ich staune über die eindeutig weiblichen Formen mancher Darsteller(innen) und frage mich, welchen Geschlechts sie nun eigentlich sind. Das Gespräch darüber verführt uns zu einer innigen Nacht. Am 1. November sind wir wieder in Hamburg. Meine Thailand-Einkünfte verteilen wir an die vier Kinder zum Erwerb eigener Häuser.

4. Voneinander scheiden                        Seitenanfang                Literaturverzeichnis

2000

Mitte März klagst du über wiederkehrende Schmerzen im Bauch. Der Arzt stellt per Ultraschall Wasser im Bauch fest und schickt dich ins Krankenhaus. Am Wochenende bekommst du Urlaub und wir haben noch einmal Gelegenheit, uns ganz innig nahe zu sein. Da wissen wir noch nicht, dass es das letzte Mal ist. Am 29. 3. wirst du operiert. Zunächst ist nur ein Nabelloch geplant, um nachzuschauen. Doch als du dich abends noch immer nicht gemeldet hast, fahre ich in die Klinik. Du bist noch im Aufwachraum, kaum ansprechbar. Ich begleite dich in dein Zimmer und bleibe eine Weile bei dir, bis du wieder einschläfst. Am nächsten Tag komme ich gerade zu dir, als die Ärztin dich informiert: Ovarialkarzinom; Eierstöcke, Appendix und Netz entfernt, doch weiterhin Befall auf Darm und Bauchfell. Sieht bösartig aus. Sie planen eine Chemotherapie. Du bist ziemlich niedergedrückt, ich erzähle dir von vielen geheilten Krebsfällen bei rechtzeitiger Entdeckung. Doch ist es noch rechtzeitig?
Nach der zweiten Chemotherapie sind deine Blutwerte so schlecht, dass  weitere Chemotherapie unmöglich. ist. Ein Kapselpräparat wird empfohlen.  
Ende Juni hast du die erste Serie Kapseln gut vertragen, die Blutwerte sind brauchbar. Ich überarbeitete meinen Roman „Die unendliche Kostbarkeit der Frauen“ und gebe ihm die Widmung „Für Karin, die mir das Kostbarste auf der Welt ist“. Dann lasse ich das Buch bei BoD drucken und verschenke es an Freunde und Kunden.
Wir kaufen neue Türen, Tapeten, Bodenfliesen und Leuchten für den Flur. Ich lege die Fliesen nach einem Muster, das ich auf dem PC entworfen hatte, und du füllst die Fugen. Die neuen Türen werden eingebaut und die Wände tapeziert. Zuletzt kaufen wir Teppiche für den Flur. Fast das ganze Erdgeschoss ist neu und sieht gut aus. Im Oktober ist die letzte Serie Kapseln durch. Du fühlst dich gut, Blutwerte und Tumormarker sind in Ordnung. Es sieht so aus, als ob du den Krebs besiegt hast. An deinem 65. Geburtstag fahren wir in die Stadt, kaufen ein und essen nett zu Mittag. Die große Feier findet am Sonntag danach statt. Bis auf Kyria kommen alle Kinder und es wird ein ganz festlicher Tag.
Im November buchen wir drei Wochen auf Gran Canaria. Der Arzt stimmt zu. Als wir nach langem Flug und einer wilden Busfahrt im Hotel ankommen, fühlst du dich nicht gut, doch am nächsten Tag ist es besser. Wir unternehmen einiges, gehen schwimmen und laufen viel, doch dein Zustand wird schlechter. Du hast Verdauungsprobleme und schließlich gehen wir zum Arzt. Wir ahnen beide, dass der Krebs wieder (immer noch?) aktiv ist. Die Befunde sind widersprüchlich, die Verständigung ist miserabel, so beschließen wir, eine Woche früher nach Hause zu fliegen. In Hamburg schickt dich der Arzt nach Eppendorf, wo Wasser im Bauch und damit eine Wiederkehr des Tumors festgestellt wird. Drei Liter Bauchwasser werden abgepumpt. 
Über Weihnachten und Silvester/Neujahr bekommst du Urlaub. Barbara kommt ein paar Tage mit ihrer Familie, und Andreas ist mit Frau und Söhnen am Silvesterabend bei uns. Als wir auf das neue Jahr anstoßen und uns küssen, wünschen wir uns noch viele schöne Jahre miteinander, aber jedem von uns beiden steckt der Zweifel wie ein Stachel im Herzen.

2001

Ich habe meinen Roman „Jade und Diamanten“ überarbeitet und freue mich, dass du ihn abschließend durchsiehst, so dass ich ihn zum Druck geben kann.
Wir wissen, dass wir vorsorgen müssen und lassen von einem Notar ein neues Testament verfassen. Wie in unserem 35 Jahre alten handschriftlichen Testament soll ich zunächst Alleinerbe sein, doch ich lasse hinzufügen, dass ich es nicht zu Ungunsten der Kinder als Nacherben verändern darf. So sind eventuelle Dummheiten ausgeschlossen. Am nächsten Tag kaufst du Bücher und Musikkassetten für die Kinder und genießt das Promenieren im Sachsentor. 
Am 10. 3. übergibst du dich ständig. Die Waage zeigt nur noch 43 kg. Ich habe Angst, dass du verhungerst und bringe dich ins Bethesda-Krankenhaus. Du erhältst sofort eine Zuckerinfusion, sagst aber ganz klar, dass du lebensverlängernde Maßnahmen ablehnst. Du weißt wohl besser als ich, dass du nicht mehr zu heilen bist. Die Ärzte geben dir nur noch wenige Tage. Du bekommst ein Einzelzimmer und ich alarmiere die Kinder.
Wir beide wissen, dass du nicht mehr lange zu leben hast. Ich danke dir für deine grenzenlose Liebe, mit der du mein Leben schön gemacht hast, und für die vielen wundervollen Jahre, die wir miteinander hatten. „Mach dir noch ein schönes Leben, wenn ich nicht mehr da bin“, sagst du und streichst mir über die Haare. Als ich dich unter der Nasensonde küsste, taucht bei uns die Frage nach unserem ersten Kuss auf. Zu Hause wälze ich den dicken Ordner mit Briefen aus den ersten 1½ Jahren unserer Liebe und stelle fest, dass dieser Briefwechsel das Entstehen unserer Gemeinschaft ganz wunderbar wider spiegelt. An den nächsten Tagen lese ich dir alle Briefe und die Tagebücher unserer gemeinsamen Reisen vor. Um meine Trauer zu kompensieren, beginne ich, die Briefe und Tagebücher aufzuschreiben. Vielleicht wird einmal ein Buch daraus, an dem unsere Kinder und nahen Freunde Interesse haben könnten.
Kyria kommt und weist darauf hin, dass zur Ernährung neben Zucker und Salz auch Eiweiß und Fett gegeben werden müssen. Wir können dich überzeugen, dass dies eine Lebensverbesserung ist, und von nun an bekommst du hochwertige Nahrung durch einen Halsvenenkatheter.
Du wirst entlassen und liegst in einem Pflegebett im Wohnzimmer, damit du an unserem Leben teilhaben kannst. Der Pflegedienst betreut dich zweimal täglich, alles andere erledige ich. Abends lese ich dir die Liebesgeschichten aus dem Buch „An Nachtfeuern der Karawan Serail“ vor. Du malst deine alten Aquarelle fertig und beginnst auch neue Bilder.
Zu unserem Hochzeitstag kaufe ich dir einen Rosenstrauß. Wir feiern diesen Tag so bewusst wie noch nie, außer vielleicht bei der Trauung selbst.
Du fragst den Arzt, wie es weiter geht, was er natürlich nicht klar beantworten kann. Er lässt aber keine Zweifel, dass du mit dem Ende rechnen musst. Wir beide sprechen später noch weiter darüber. Ich sage dir, dass diese Zeit, wo ich dich pflegen kann, für mich sehr wertvoll ist, weil ich dir damit ein wenig von der unendlichen Liebe zurück geben kann, mit der du mich während unseres langen gemeinsamen Lebens so reich beschenkt hast. Sicherlich ist diese Art zu leben auch für mich schwieriger. Aber es ist eine ganz neue, wertvolle Erfahrung. 
Ich frage dich, ob du Lust auf ein bisschen Zärtlichkeit hast. Erfreut stimmst du zu und kommst mit zusätzlichen Morphiumpflastern ins Schlafzimmer. Einen langen Abend fühlen wir wieder unsere Körper aneinander und tun uns gegenseitig Gutes. Ich spüre, dass auch du, meine Geliebte diesen wundervollen Abend mit allen Sinnen genießt, und du bestätigst es beglückt, als ich für deine Zärtlichkeit danke. „Vielleicht können wir miteinander kommunizieren, wenn ich nicht mehr bin“, flüsterst du. „Schau nur immer zu unserem ,W’ hoch, ich schau zu dir hinunter.“ Ich kann nur mühsam die Tränen nieder kämpfen.
Du fragst den Arzt, welche Möglichkeiten es gibt, unerträgliche Qualen abzukürzen. Er sagt, dass er nichts unternehmen darf, was aktiv dein Leben verkürzt. Es steht dir aber frei, die künstliche Ernährung abzulehnen, wodurch du langsam ohne Qual verhungern würdest. Ich überzeuge dich, dass du dich für diese Maßnahme selbst entscheiden musst, aber im Moment noch keinen Grund dazu hast. Ich sage dir, dass du die Kinder über deine Absicht informieren musst und du sprichst mit Andreas und telefonisch dann auch mit den anderen darüber.
Am Abend kommt eine liebevolle, ergreifende Mail von Kyria. Ich muss schlucken, als ich sie beim Öffnen lese, und auch in deinen Augen sehe ich nach langer Zeit wieder Tränen:

„Liebe Mutti, hier das Gedicht, von dem ich Dir erzählt hatte:
    Do not stand at my grave and weep,
    I am not there. I do not sleep.
    I am a thousand winds that blow.
    I am the diamond glint on snow.
    I am the sunlight on ripened grain.
    I am the gentle autumn rain.
    When you wake in the morning hush,
    I am the swift, uplifting rush
    of quiet birds in circling flight.
    I am the soft starlight at night.
    Do not stand at my grave and weep.
    I am not there. I do not sleep. ...

Ich werde mir vorstellen, dass der Wind, der mich sanft umspielt, von Dir geschickt ist, dass der wärmende, wohltuende Sonnenstrahl Dein Lächeln ist und dass Du in dem nächtlichen Sternenglanz gegenwärtig bist. Mutti, Du warst mir so vieles. Nach Deinem Tode wirst Du mir zusätzlich die Sonne, die Sterne, der Wind und alles Schöne, Weiche und Warme in der Natur sein. Ich hoffe, Du lächelst mir manchmal aus dem Himmel zu! ... Deine Kyria“

Du willst jetzt die künstliche Ernährung abbrechen. Am Abend sprechen wir lange über diesen Entschluss. Ich gebe dir zu bedenken, dass dein Zustand sich ja nicht wesentlich verschlechtert hat, seit du nach Hause gekommen bist. Du hast den Eindruck, ich will dich von deinem Entschluss abbringen und bittest mich, dich nicht zu quälen. Nur langsam kann ich dir klar machen, dass ich dich um deinetwillen dazu bringen will, eine derart gravierende Entscheidung sorgfältig zu erwägen. Doch ich muss begreifen, dass dich deine Stärke verlässt. Du kannst die ständigen Schmerzen und Beeinträchtigungen der Lebensführung nicht mehr ertragen.
Pastor Lundius spendet uns bei herrlichem Sonnenschein auf der Terrasse das Abendmahl. Wir haben es lange nicht mehr zusammen gefeiert, aber genau so, wie wir es zu Beginn unserer Liebe und vor allem nach unserem vollkommenen Einswerden als göttliche Besiegelung unseres Bundes angesehen haben, brauchen wir es jetzt als Abschied voneinander unter Gottes Schirm. Bewegt reichen wir uns das Brot und den Traubensaft als Symbol von Gottes Liebe zu uns. Wir haben sie während unserer ganzen Gemeinschaft in unserer Liebe widergespiegelt gefühlt, und wenn diese jetzt physisch zu Ende gehen sollte, so wird sie im Geiste als wunderschöne Erinnerung bestehen bleiben. Nach dem abschließenden Segen küsse ich dich und erzähle dem Pastor von unserem Abendmahl in Saverne und seinem Hintergrund.
Nach vier Tagen geht die Spuckerei wieder los. Es ist ein warmer Tag, du gehst gleich nach draußen. Barbara und Lydia sind bei dir. Der Arzt sagt, deine Blutwerte seien so schlecht, dass du nicht mehr lange zu leben hast. Spät um 21:30 bringe ich dich von der Terrasse ins Bett. Du musst dich fast ständig übergeben. Ich halte dir den Kopf und die Schüssel. Doch dann verlassen dich die Kräfte und ich kann deinen Kopf nur noch ins Kissen legen. Du verlierst das Bewusstsein. Der Arzt spricht von beginnendem Kreislaufversagen und gibt dir eine Spritze dagegen. Ich küsse dich noch einmal, zünde Kerzen an, spiele dein Musikstück und halte deine Hand. Das Leben mit dir war so schön! Als der Arzt nach einer Stunde wieder kommt, sagt er, du seiest im Koma, fühltest nichts mehr und würdest wohl in der Nacht einschlafen. Ich lege mich auf das Sofa und lausche auf dein schweres Atmen. Irgendwann falle ich in einen unruhigen Schlaf.
Am 28. 6. wache ich auf, und höre dich noch atmen. Um 11:24 wird dein Atem unregelmäßig, dann setzt er ganz aus. Du hast deinen Lebensweg beendet, der so viele schöne Stationen hatte, aber zuletzt nur noch Leiden war. Ich drücke dir die Augen zu, dann sitzen wir noch eine Stunde bei dir und halten still deine Hände, bis der Arzt kommt und offiziell deinen Tod feststellt.
Am 4. 7. ist der Sarg schön geschmückt, um ihn herum viele Blumensträuße und Kränze. Die Trauergemeinde ist groß, neben vielen Freunden und Verwandten ist fast der ganze Schleusenhörn gekommen. Zum Eingang wird die Gitarren-Romance aus „Jeux Interdits“ gespielt, die wir uns beide für den Trauergottesdienst gewünscht haben, als wir sie auf Kyrias CD hörten. Nach dem Friedensgruß singen alle „Gloria sei dir“, das du aus dem Gesangbuch ausgesucht hast.  Nach der Aussegnung singt Lydias Gospelchor den Irischen Segenswunsch, den sie auch schon an deinem Bett gesungen haben. Beim Refrain

    „und bis wir uns wieder sehen,
    möge Gott seine schützende Hand über dich halten.“

muss ich schlucken, denn ich höre darin deine Worte, die du mir zum Abschied sagst. 
Nachdem der Sarg langsam ins Grab gesenkt worden ist, biete ich dir meinen letzten Gruß in dieser Welt:

„Karin, Geliebte, während unseres ganzen gemeinsamen Lebens habe ich dich als ein unbegreifliches Geschenk Gottes für mich angesehen. Doch dass dieses Geschenk stets so wunderbar und einzigartig war, ist allein das Werk deiner Liebe. Sie hat mein Leben so schön und reich gemacht, wie es gar nicht schöner hätte sein können. Ich möchte ein Gedicht von Friedrich Halm zitieren, das ich dir im Mai 1957 in einem Brief mit geschickt habe:

    Mein Herz, ich will dich fragen, was ist die Liebe, sag?
    ,Zwei Seelen, ein Gedanke, zwei Herzen und ein Schlag!’
    Woher kommt denn die Liebe? ,Sie kommt nicht, sie ist da!’
    Und sprich, wie schwindet Liebe? ,Die war’s nicht, der’s geschah!’
    Was ist denn reine Liebe? ,Die ihrer selbst vergisst!’
    Und wann ist sie am tiefsten? ,Wenn sie am stillsten ist!’
    Wann ist die Lieb’ am reichsten? ,Reich ist sie, wenn sie gibt!’
    Und sprich, wie redet Liebe? ,Sie redet nicht, sie liebt!’

Du hast oft genug deiner selbst vergessen und deine Interessen hintan gestellt, um uns Liebe zu geben. Und du hast nie darüber gesprochen, sondern nur geliebt. Vor 45 Jahren haben wir das Sternbild der Cassiopeia für uns annektiert, das ein großes ,W’ am Himmel zeigt. Es war uns das Symbol für das ,Wir’, in dem sich unsere beiden ,Ichs’ vereinigen sollten und vereinigt haben. Immer wenn wir getrennt waren, schauten wir zu diesen Sternen auf und wussten, der andere tut das Gleiche. Die Cassiopeia war uns der Spiegel, in dem wir uns sahen. Vor einigen Wochen sind wir uns noch einmal ganz nahe gewesen, so weit das mit deinen Schläuchen möglich war. Danach hast du mir ins Ohr geflüstert: ,Vielleicht können wir ja miteinander kommunizieren, wenn ich nicht mehr bin. Schau nur immer zu unserem ,W’ hoch. Ich schau zu dir hinab.’
Hab Dank, Geliebte, für alles! Ich wünsche dir, dass du glücklich bist, wo du jetzt bist. Du bist mir jetzt ein Stück Weges voraus. Bis wir uns wieder sehen, möge Gott seine schützende Hand über uns halten. Tschüss, meine Liebe, mach’s gut!“
Dann werfe ich eine Rose und eine Schaufel Sand auf deinen Sarg und wende mich ab, während die andern das Gleiche tun. Ich merke kaum, dass sie mir und den Kindern kondolieren.

Im „Hotel am Deich“, rollt Bringfried vor den Gästen dein Leben auf. Er schildert, wie er uns mehr zufällig als bewusst zueinander geführt hat und beschreibt aus unseren Briefen, wie dieses „Zueinander“ langsam und stetig enger wurde. An Hand von deinem Telegramm nach meinem Unfall:

= SEI TAPFER KOMME SAMSTAG = KUSS KARIN +

zeigt er, dass du mich immer unverbrüchlich geliebt hast. Die wunderbare erste Reise ins Elsass nenne er ohne Scheu „Hochzeitsreise“, und ich bin ihm dankbar für seine Worte: „Nach dem Kirchenbrauch mag sie, horrible dictu, vorzeitig gewesen sein, für euch beide geschah sie genau zur rechten Zeit.“ Immer wieder schildert er deine Sanftmut, Fröhlichkeit und Entschlossenheit, die dich zu einer so wertvollen Partnerin, Mutter und Geliebten gemacht hat. „Selbander“ nennt er die zwanzig Jahre unserer Freiheit, zu zweit die Welt zu erforschen. Vom Abendmahl in Saverne bis zu jenem letzten auf der Terrasse schlägt er die Brücke zu den Jahren deines Leidens.

Erinnerung Frankreich 10. 7. – 14. 8 01
Sechs Tage nach der Beerdigung habe ich alles Notwendige erledigt und fahre nach Frankreich. Von unserem ersten bis zum letzten gemeinsamen Urlaub zieht sich ja eine Perlenkette wunderbarer Erlebnisse durch das ganze Land, und die Erinnerung daran soll mir helfen, die Gedanken an dein qualvolles Sterben zu überwinden. Und ich will alleine sein. Ich bin immer ein Steppenwolf gewesen und du warst der einzige Mensch, der mich gezähmt hat und mit dem ich unbegrenzt und problemlos zusammen leben konnte.
In der schönen alten Abteikirche St. Peter und Paul in Neuwiller-les-Saverne, die wir uns vor 44 Jahren nach unserer ganz privaten Hochzeitsnacht ausgiebig angesehen haben, zünde ich eine Kerze für dich an. Noch lange sitze ich in der Kirchenbank, danke Gott für die wundervolle Zeit mit dir und bitte um Segen für dich und für mein weiteres Leben. Niemand von uns weiß ja, wo du dich jetzt befindest. Aber ich bin sicher, dass deine grenzenlose Liebe, mit der du mein und unser aller Leben reich und schön gemacht hast, dir vielfach zurück gegeben wird in einem Leben voller Glück und Seligkeit, das wir erst schauen werden, wenn auch wir unsere irdischen Augen für immer schließen.
Im provencalischen Lacoste sitze ich eine Weile an der Stelle, von der wir vor 20 Jahren beide den schönen Glockenturm gemalt haben. Ich finde sogar die versteckte kleine Kräuterwiese wieder, wo du mir nach zärtlichem Spiel einen Lavendelkranz geflochten hast. Ich lege mich in die Sonne und lasse meine Gedanken zurück schweifen.
Immer wieder arbeite ich die Erinnerungen, Brief- und Tagebuchausschnitte durch, die ich während deiner Krankheit aufzuschreiben begonnen habe. Ich gebe ihnen den Titel „Leben mit Karin“, denn du wunderbare, großartige, liebevolle Frau wirst immer in mir weiter leben in den vielfältigen Erinnerungen an die herrliche Zeit mit dir.
Allmählich begreife ich, dass dein Sterben genau so großartig und voller Würde war wie dein schon sehr erfülltes Leben, wenn dies auch gut noch zwanzig weitere Jahre hätte dauern können: Als du dein Leiden nicht mehr ertragen konntest, hast du mit unbegreiflicher Kraft den Zeitraum deines Todes selbst bestimmt, die Trauerfeier geplant und uns die Möglichkeit gegeben, von dir Abschied zu nehmen und dir zu danken. Deshalb kann ich dieses voraus sehbare, selbst bestimmte Sterben leichter bewältigen als Dietlinds Unfalltod damals, obwohl unsere Gemeinschaft unvergleichlich enger war und vielfach länger währte.
Als ich auf dem Rückweg an Landstuhl vorbei komme, schließt sich der Kreis meiner Reise, denn mir kommt die Idee, Dietlinds Grab zu besuchen, in dem jetzt auch ihre Mutter liegt. Ich stelle einen schönen Blumenstrauß darauf und erinnere mich an zwei bewegende Momente: Hier habe ich Dietlind, schon im Sarg, zum Abschied geküsst und hier habe ich drei Jahre später dich geküsst, zum Dank, dass du Dietlind als ein Stück meiner Erinnerung akzeptiert hast. Ob ihr beiden Frauen, die ich so sehr geliebt habe, euch jetzt begegnen werdet?
Allmählich finde ich auf der Reise in die Vergangenheit genug Kraft, die Gegenwart ohne dich zu ertragen, wenn ich dir auch noch ständig etwas Schönes zeigen oder Interessantes erzählen will und dann schmerzlich merke, dass du nicht mehr da bist.
Vergangenheit und Gegenwart münden in die Zukunft, die für mich vielleicht noch zehn oder fünfzehn Jahre dauern wird. „Mach dir noch ein schönes Leben“, hast du gesagt. Nun liegt diese Zukunft vor mir wie ein unbeschriebenes Buch. Ich bin bereit, die Seiten zu füllen und gespannt auf den Inhalt.
Da weiß ich noch nicht, dass schon nach 13 Monaten, am 20. 9. 2002, Rosemarie mir eine neue wundervolle Liebe schenken wird.

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