Ernst-Günther Tietze: "Leben mit Karin", Leseproben
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Ernst-Günther Tietze
Hab’ Dank Geliebte, für die 45 wundervollen Jahre,
in denen Du mein Leben reich und schön gemacht hast!
Einleitung
Zwei Jahre nach Dietlinds
Tod lernte ich
Karin kennen und lieben. Die folgenden Erinnerungen, Brief- und
Tagebuchausschnitte beschreiben das Entstehen und Bestehen dieser wundervollen,
mehr als 45 Jahre währenden grenzenlosen Liebe zwischen uns. Die ersten zwei
Jahre, in denen wir getrennt lebten, sind durch Briefauszüge dokumentiert, alle
folgenden durch Erinnerungen, Reisetagebücher und einige weitere Briefe.
Selten gab es
Unstimmigkeit oder Streit zwischen uns, und stets gelang es uns dabei, den
Partner als geliebten Menschen mit lediglich konträrer Meinung zu achten und
seine Würde zu wahren. Nie dauerte eine Meinungsverschiedenheit über den Tag
hinaus. Bei allem, was uns begegnete, waren wir ganz sicher, den Partner viel stärker
zu lieben, als irgend jemanden oder irgend etwas anderes. Wir beide wussten um
den Wert des Satzes „Liebende leben von der Vergebung“. Ich habe die
Vergebung der geliebten Frau oft genug gebraucht – und bekommen. Dass wir sehr
oft zur selben Zeit genau das Gleiche dachten, war uns der Beweis einer
seelischen Übereinstimmung, wie sie nur aus tiefer Liebe entsteht.
1. Zueinander finden
1956
Erinnerung: März / April 1956 im Harz
Ostern plane ich eine Fahrt mit meinem Stamm nach Westdeutschland. Mein Freund
empfiehlt mir St. Andreasberg im Harz. Schmunzelnd fügt er hinzu: „Wir sind
dort mit einer Familie befreundet, deren Tochter Karin du kennst, sie hat hier im
Kunstgewerbeladen gearbeitet“. Das ist das stärkste Argument: Ich sehe ein
anmutiges blondes Mädchen in dem kleinen Laden sitzen und sticken.
Du bist, obwohl jetzt 20 Jahre alt und reifer geworden, noch genau so anmutig
wie früher: schlank mit langen blonden Haaren und blaugrauen Augen mit einem
goldenen Rand der Iris in deinem schönen, offenen Gesicht. Mit einem Mal weiß
ich, dass ich nun lange genug um Dietlind getrauert habe.
Neben vielen Streifzügen durch die schöne
Gegend gestalten wir einen offenen Abend mit Sketches, Liedern und einem von mir
erarbeiteten Laienspiel über den Philemonbrief. Ich freue mich, dass du unter
den Zuschauern bist.
Beim Abschied sehe ich wieder die Wärme in deinen schönen Augen. Da weiß ich
ganz genau, dass ich dich gewinnen will. Ich bin überzeugt, dass du eine ebenso
wertvolle und bestimmt auch liebevolle Frau bist wie Dietlind. Aus Berlin schreibe ich einen Dankesbrief an deine
freundlichen Eltern, in dem ich als kleinen Angelhaken für dich die Bitte um
eine Kritik an unserem offenen Abend verstecke.
St. Andreasberg, den 16. 4. 56
Lieber Ernst-Günther! Ich freue mich, dass Du so bald etwas von Dir hören ließest.
... Gerne sage ich Dir meine persönliche Meinung über den offenen Abend. Im
Großen und Ganzen waren wir doch alle recht beeindruckt, und eine kleine
Aufpulverung war für uns bestimmt auch nötig. ... Ich würde mich freuen, wenn
Du uns bald wieder besuchen würdest. Herzliche Grüße,
Deine Karin
Erinnerung: 15. – 17. 6. 56 im Harz
Trotz der schon vertrauten Briefe sind wir uns noch etwas fremd. Wir strolchen
in der Gegend umher und gehen am Abend tanzen. Auf dem Heimweg erzähle ich dir,
dass dies mein erster Tanz seit zwei Jahren war, weil ich so lange um Dietlind
getrauert habe. Du willst mehr darüber hören und bist angerührt von meiner
Liebe zu Dietlind und ihrem grausamen Tod. Ich merke dir deutlich dein Mitleid
an.
Am Sonntag wandern wir durch den aufblühenden Wald, ohne
uns sehr an die Wege zu halten. Als wir an einem Hochsitz vorbei kommen, schlage
ich vor, hinauf zu klettern. Wir schauen hinaus auf die Gegend, doch ich sehe
nur dich, du wunderbares Mädchen, und mir wird immer wärmer ums Herz. Zu gerne
würde ich dich küssen, doch ich weiß nicht, ob du schon dazu bereit bist. Und
du bist mir zu wertvoll, um dich zu erschrecken und vielleicht zu verlieren. –
Du merkst wohl, was in mir vorgeht. Du lächelst mich freundlich an und sagst
ganz ruhig: „Komm, lass uns wieder hinab steigen.“ Die Spannung in mir löst
sich und ich folge dir, dankbar, dass dein feiner Takt mir die Sache so leicht
macht. – Als wir uns abends am Bus verabschieden, gebe ich dir die Hand. Doch
du legst auch deine linke noch dazu und drückst sie mir ganz fest. Glücklich
wie schon lange nicht mehr fahre ich durch die Nacht nach Berlin zurück.
Berlin, den 18. 6. 56
Liebe Karin, damit Du ruhig schlafen kannst: Ich bin gut angekommen. Kurz vor
sieben war ich zu Hause und um acht in der Schule. Doch meine Gedanken waren
viel mehr bei Dir als bei elektrischen Maschinen. ... Liebes Mädel, Du wirst
gemerkt haben, was jene Tage für mich bedeutet haben: ein langsames
Neu-Einfinden in eine Welt, von der ich vor zwei Jahren glaubte, dass ich mich
nie wieder hinein finden könnte. Denn wenn ich erwähnte, dass ich Dietlind
sehr gern hatte, so ist das außerordentlich schwach ausgedrückt. Ich habe sie
geliebt mit meiner ganzen Liebesfähigkeit. Du hast mich von diesem Gefühl
befreit, keinen Menschen mehr gern haben zu können. Dafür danke ich Dir von
Herzen. Gleichzeitig möchte ich Dich aber bitten, Geduld mit mir zu haben, wenn
jetzt einiges in meiner Erinnerung auftaucht, was ich bisher gewaltsam unterdrücken
musste, um nicht wahnsinnig zu werden. Ich werde Dir, wenn wir uns gut genug
kennen, alles erzählen, was zwischen Dietlind und mir war, weil ich glaube,
dass das auch zur Ehrlichkeit zwischen uns gehört. Also noch mal: Hab’ bitte
Geduld mit mir. ... Sei von Herzen gegrüßt von Deinem Ernst-Günther
Ich ging im Walde so für mich hin
und nichts zu suchen, das war mein Sinn.
Im Schatten sah ich ein Blümchen steh’n,
wie Sterne leuchtend, wie Augen so schön.
Ich wollt’ es brechen, da sagt es fein:
„Soll ich zum Welken gebrochen sein?“
Ich grub’s mit all seinen Wurzeln aus,
zum Garten trug ich’s an meinem Haus.
Und pflanzt’ es wieder an stillem Ort,
nun zweigt es immer und blüht so fort.
Johann Wolfgang von Goethe
St. Andreasberg, den 21. 6. 56
Lieber Ernst-Günther! Ich denke noch viel an unser gemeinsames Wochenende. Es
war wirklich wunderbar für mich, sicher so wie für Dich. Ich mache mir nur
Gedanken um Dich. Gewiss, ich kann mir vorstellen, dass Du jetzt viel in Dir zu
verarbeiten hast mit dem, was Du mir schriebst von Dietlind. Wenn wir beide
Geduld miteinander haben, kann es zwischen uns zu einem schönen neuen Anfang
kommen. Wenn es Dich aber befreit, Dir alles vom Herzen zu sprechen, dann will
ich Dir gerne helfen.
Lieber Ernst-Günther, ganz herzliche Grüße von mir, Deine Karin
Ich muss den Brief immer wieder lesen. Das Wort von dem schönen neuen Anfang zwischen uns ist eine wundervolle Verheißung für mich und zum ersten Mal sehe ich wieder die strahlende Zukunft vor mir, die sich mit Dietlinds Tod so grauenvoll zerschlagen hatte. Dabei wird mir klar, dass wohl vor allem mein Bericht über meine Liebe zu Dietlind und der Schmerz über ihren Tod mir geholfen hat, dir so schnell nahe zu kommen, also hat Dietlind mir in einem letzten Liebesdienst geholfen, dich zu gewinnen. Ich bin ganz sicher, dass du mir eine wunderbare Fortsetzung meiner ersten großen Liebe sein wirst. „Hab Dank, Dietlind“, denke ich, doch bald wird daraus ein heißes Dankgebet an den Herrn, der mich so wunderbar führt.
Berlin, den 24. 6. 56
Liebe Karin, gestern Abend abends war ich zu einem Fest von Peters Klasse
geladen. Ich bin seit Jahren nicht mehr so fröhlich und unbeschwert gewesen.
Wer daran Schuld ist? Du! Seit dem gemeinsamen Wochenende sieht die Welt ganz
anders aus. ... Und da das nun einmal ausgesprochen ist, kann ich auch das
andere sagen, dass ich Dich sehr lieb gewonnen habe und hoffe und bete, es möge
zwischen uns eine Liebe wachsen, die das Leben überdauert. Deshalb aber meinte
ich, es gehöre zur Ehrlichkeit, wenn wir uns ganz kennen lernen, auch mit dem,
was gewesen ist. ...
Nun sei Du von Herzen gegrüßt von Deinem Ernst-Günther
St. Andreasberg, den 29. 6. 56
Lieber Ernst-Günther! ... Ich freue mich auch, dass ich Dir so viel bedeuten
kann, dass Du wieder froh und frei bist und in die richtigen Gleise zurück
findest. Mir bedeutest Du sehr viel. Du hast mir schon einiges zu denken gegeben
und ich bin dankbar, dass ich Dich überhaupt kennen gelernt habe.
Ich sende Dir ganz herzliche Grüße, Deine
Karin
Erinnerung: 17. – 18. 8. 56 im Harz
Am Samstag streifen wir durch Berg und Wald. Als wir auf den Hohen Klippen
stehen und ins Land hinaus schauen, nehme ich meinen ganzen Mut zusammen,
eigentlich müsstest du mein Herzklopfen hören. Ich spreche dich auf den Film
„Ich denke oft an Piroschka“ an, den ich dir empfohlen habe. Ja, du hast ihn
gesehen. Ob du die Szene erinnern kannst, wo die beiden zusammen am Bahndamm liegen,
nachdem Piroschka den Zug zum Halten gebracht hatte? Du lachst, ich glaube, du hast schon begriffen, was ich will. Ob Du diese
Szene schön gefunden hast, frage ich noch. Mit leuchtenden Augen sagst du
„ja“. Da nehme ich dich in die Arme und küsse dich. Wie lange habe ich mich
schon danach gesehnt, und jetzt merke ich voller Freude, dass du es auch genießt.
Mit geschlossenen Augen und beseligtem Gesicht umarmst auch du mich, als unsere
Zungen miteinander spielen. Du bist ja für mich schon lange das schönste Mädchen
auf der Welt, aber nie bist Du schöner als in diesem Augenblick.
Wie oft
wir uns an diesem Tag noch geküsst haben, weiß ich nicht, aber es war sehr
oft. Ich glaube, du hast es auch gewollt, dass wir diesmal so nahe zueinander
finden. Und als wir uns abends zum Abschied noch einmal innig küssen, wissen
wir beide, dass wir uns nie wieder loslassen werden.
Hamburg, den 19. 8. 56
Mein liebes Mädel, nun bin ich glücklich in Hamburg gelandet. Ich habe während
der Fahrt ständig an Dich gedacht. Weißt Du, die Tage bei Dir waren wunderschön.
Lass mich Dir noch einmal von Herzen danken für alles, was Du mir gegeben hast.
...
Sei in Liebe von Herzen gegrüßt und in Gedanken tausend Mal geküsst von
Deinem Ernst-Günther
St. Andreasberg, den 21. 8. 56
Lieber Ernst-Günther! ... Ich denke noch viel an die letzten Tage mit Dir und
freue mich schon sehr darauf, dass wir uns bald wieder sehen können. ... Das
eine muss ich Dir noch sagen: Ich freue mich so sehr, dass ich Dich habe und
dass ich Dich sehr lieb gewonnen habe. Ich habe mich zuerst dagegen gesträubt,
obwohl ich das schon ahnte, denn ich wollte allein sein. Aber Du zwingst mich
einfach dazu, Dich gerne zu haben, und ich bin nun ganz das Gegenteil als unglücklich
darüber. Ich freue mich riesig über Deine Briefe und zähle schon die Tage,
bis Du endlich wieder bei mir bist. ...
Sei von Herzen gegrüßt und geküsst (in Gedanken), Deine Karin
Erinnerung: 7. – 9. 9. 56 in Hamburg
Welch eine Freude, dich auf dem Bahnsteig in die Arme zu nehmen und deine Lippen
auf den meinen zu spüren! Ich habe kaum Gelegenheit, dir meinen Rosenstrauß zu
überreichen. … Spät bringe ich dich zur Pension, wo wir uns wieder nach
langen Küssen voneinander los reißen müssen. Ich kann lange nicht einschlafen
vor Glück.
Für mich ist es etwas großes, mit dir als Dame das Theater zu besuchen, wo wir
bisher nur im Räuberzivil durch die Wälder gestreift sind. Anschließend gehen
wir ins benachbarte Boccaccio zum Tanzen. Ich genieße den Tanz mit dir sehr und
habe das Gefühl, dass es bei dir nicht anders ist.
Wir sind beide so aufgedreht, dass wir nach Hause laufen wollen. Immer wieder
bleiben wir stehen oder setzen uns auf eine Bank, um uns zu küssen, während
die Alster vor uns plätschert. Schließlich kann ich mich nicht mehr zurück
halten und lege meine Hand in den Ausschnitt deines leichten Sommerkleides. Als
du es mir nicht verwehrst, geht meine Hand weiter, bis ich die zarte Haut deiner
Brust fühle und streichle. Erstaunt registriere ich, wie die weiche Spitze
unter meiner zärtlichen Berührung fest wird. Wie glücklich bin ich, als du
mir mit immer heftigeren Küssen zeigst, dass dir diese Liebkosung Freude macht.
Das ist der schönste Augenblick meines bisherigen Lebens!
Hamburg, den 13. 9. 56
Geliebtes Mädel, hab herzlichen Dank für Deine liebe Karte. Ja, es waren zwei
herrliche Tage; doch gebührt mir kein Dank dafür, denn ich habe ja ebenso viel
oder sogar noch mehr Freude aufgenommen. Ich glaube, wenn wir Dank auszusprechen
haben – und das ist ja in überreichlichem Maße der Fall – dann vor allem
im Gebet. Dank für die schönen Stunden, die wir immer wieder erleben, Dank,
dass wir uns gefunden haben und Bitte: für unsere Zukunft, dass unser weiteres
Miteinander gesegnet wird; und für den anderen, dass er vor Gefahr an Leib und
Seele beschirmt werde. Doch zusätzlich will ich Dir von Herzen danken, dass Du
durch Dein Kommen und Deine Liebe diese beiden schönen Tage möglich gemacht
hast. … Hier in Hamburg gingst Du
zum ersten Mal aus Deiner vielleicht unbewussten Reserve heraus und zeigtest
Dich völlig, wie Du bist. Das war das schönste Erlebnis und die größte
Freude für mich. Denn wir haben uns ineinander verliebt, ohne uns näher zu
kennen. Jetzt sehe ich mit großer Freude, dass dieses Vertrauen berechtigt war.
Doch genug der Theorie. Ich habe Dich von Herzen gern, glaube von Dir das
gleiche und wir sind froh miteinander – was wollen wir mehr! ...
Meine liebe Karin, ich wünsche Dir noch viel Freude bei Deinem Kursus und sei
herzlich gegrüßt und geküsst von Deinem Ernst-Günther
Erinnerung: 5. – 7. 10. 56 im Harz
Als ob wir uns schon Jahre nicht gesehen hätten, drücken wir uns lange Zeit
aneinander und küssen uns, jeder glücklich, den anderen wieder zu sehen und
– nicht weniger wichtig – zu fühlen. Neben langen Wanderungen durch den
herbstlich werdenden Harz habe ich bei diesem Treffen viel zu erzählen von dem
aufregenden letzten Teil meiner Ferienarbeit in Hamburg, in dem ich vielleicht
schon eine Linie für unsere gemeinsame Zukunft gelegt habe. Denn dass wir
miteinander in die Zukunft gehen wollen, darüber sind wir uns jetzt ganz
sicher. Wir versprechen uns Liebe und Treue für ein gemeinsames Leben und sind
uns einig, unser Versprechen bald durch eine offizielle Verlobung auch nach außen
zu zeigen.
Berlin, den 13. 10. 56
Geliebtes Mädel, nun ist es schon wieder eine Woche her, dass wir Hand in Hand
durch den nassen Wald zogen und immer wieder die Lippen aufeinander pressten, um
uns immer wieder unsere Liebe zu beweisen. Ich bin älter geworden in der kurzen
Zeit, da zwischen uns Sehnsucht und Vertrauen gewachsen ist, und Dir ist es,
glaube ich, nicht anders gegangen. Wir haben Pläne geschmiedet, wir haben uns
entschlossen, bald Ringe zu tauschen und sind froh und dankbar dafür. Wir
werden immer weiter so unsere Wege ziehen, uns des Sonnenscheins freuen und
Regen und Sturm hinnehmen, wie sie kommen. Wir werden das Hand in Hand tun oder
auch aneinander geklammert, damit uns der Sturm nicht voneinander weg reißt.
Wir werden lachen und fröhlich sein oder auch die Zähne zusammen beißen. Aber
eines werden wir niemals: aufhören, uns zu lieben, uns umeinander zu sorgen, füreinander
zu beten, uns miteinander zu freuen und gemeinsam zu tragen, was zu tragen ist.
Wir werden einst, wenn wir reif genug dazu sind, das größte Geheimnis der
Liebe erleben und es wird uns zu noch größerer Treue und Verbundenheit führen.
Und wir werden dann, wenn dies Leben erfüllt ist, eingehen in das Reich, das
noch größer und schöner ist als unsere Zeit jetzt, selbst im Beieinander
liebender Herzen.
Ich weiß nicht, ob Du Dich am Sternhimmel auskennst. Es gibt dort in der Verlängerung
der Linie von der Deichsel des großen Wagens über den Polarstern hinweg ein
Sternbild namens Cassiopeia, das die Form eines W hat. Immer wenn ich dieses
Bild sehe, denke ich an Dich oder besser an uns, denn dieses W verkörpert mir
das „Wir“, das langsame Einswerden von uns beiden. Unsere Gedanken sind
jetzt schon immer beieinander, wenn auch vorläufig noch wieder und wieder
Stunden der Trennung schlagen. ... Meine liebe Karin, sei von Herzen geküsst
von Deinem Ernst-Günther
Berlin, den 21. 10. 56
W
Meine liebe Karin, wenn Du jetzt Geburtstag hast, so wird Dir von vielen Seiten
gratuliert werden. Man wird Dir Erfolg und Glück wünschen, man wird vielleicht
sogar sagen, Du könntest stolz sein, dass Du jetzt volljährig bist.
Diejenigen, die sich nicht so viel Mühe machen, werden wenigstens eine
vorgedruckte Karte senden. Auf jeden Fall werden alle überzeugt sein, Dir mit
ihren Glückwünschen und Gratulationen eine Freude gemacht zu haben.
Im Allgemeinen werden die Geburtstage ja auch unter diesem Gesichtswinkel
gefeiert. Eines wird meist vergessen: Dank. Dank Gott gegenüber, dass er einen
bis zu diesem Punkt gnädig und letztlich voller Liebe geführt hat. Daraus
leitet sich dann der Dank den Menschen gegenüber ab, die als Gottes Werkzeuge
zwar, aber doch nach eigener Entscheidung Hilfestellung geleistet haben, dass
dieser Punkt erreicht wurde. Gott danken wir zuweilen in einer Stunde der
Besinnung. Danken wir auch jenen Menschen, z. B. den Eltern? Wenn der Geburtstag
ein Ehrentag ist, dann doch vor allem für sie!
Wenn man diese Dinge bedenkt, kann man sich auch einiges wünschen lassen zu dem
neu beginnenden Lebensjahr. Und das will ich jetzt tun. Glück und Reichtum wünsche
ich Dir nicht, Erfolg nur bedingt. Wer Gottes Führung anerkennt, kann kein
„Glück“ oder „Pech“ bejahen. Reichtum ist eine sehr zweifelhafte Sache.
Leute, die ihn nicht haben, sind besser dran, weil ihnen die Überlegung erspart
bleibt, ihn verantwortlich zu gebrauchen. Und Erfolg? Worin? Doch höchstens in
der Erfüllung des Lebensauftrages, der auf irgend eine Art jedem gestellt ist.
Diese Art von Erfolg können wir uns allerdings immer wieder nur wünschen. So
will ich es auch tun.
Ich wünsche Dir weiter, dass in Deinem weiteren Leben eine gute Portion Freude
neben all dem Schweren vorhanden ist, das es auf jeden Fall gibt. Möge es so
viel Freude sein, dass Du immer noch anderen abgeben und sie dadurch ebenfalls
froh machen kannst.
Alsdann wünsche ich Dir Erkenntnis Gottes und seines Willens, wie auch seiner
Christusbotschaft. Ich schreibe das nicht, weil ich mir darüber schon völlig
klar wäre, sondern weil jeder von uns diese Erkenntnis bitter nötig hat. Das
spüre ich ja am eigenen Leibe, dieses verzweifelte Suchen und nur stückweise
Finden.
Aber der wichtigste Wunsch ist Liebe. Einmal, dass Dir immer viel Liebe gegeben
wird, wie sie jeder Mensch zum Leben braucht. Ich hoffe, dass der Hauptanteil
hier von mir kommen wird. Zum anderen aber, dass auch Du immer noch mehr die Fähigkeit
gewinnst, Liebe auszustrahlen. Denn Menschen, die das können, gibt es sehr
wenige, aber sie werden so dringend gebraucht. „Was hilft es dem Menschen,
wenn er die ganze Welt gewönne und hätte der Liebe nicht!“
Es gibt noch viel zu wünschen, ich will nur noch einen Wunsch aussprechen, der
überdies reichlich egoistisch ist: dass wir beide uns immer näher kommen und
uns gegenseitig höher führen, dass stets Ehrlichkeit und Vertrauen zwischen
uns selbstverständlich ist und dass Liebe und Treue ständig nur größer und
weiter werden. Dabei möchte ich Dich an die Cassiopeia erinnern, das große
„Wir“, auf das unsere beiden „Ich’s“ zusteuern. Und wenn wir jetzt
noch warten müssen, so steht doch dieses „Wir“ als Ziel vor jedem von uns,
das täglich näher rückt. Es rückt genau so näher, wie die Stunden des
Wiedersehens und des Abschieds näher rücken. So sehen wir uns schon am Ende
dieser Woche wieder, und die drei Wochen, die dazwischen lagen, sind wie im
Fluge vergangen. Nun wollen wir sehen, dass diese Tage wieder schön werden und
wir sie recht nutzen.
Sei noch recht herzlich bedankt für Deinen lieben Brief. Ich werde ihn mündlich
beantworten. Und nun, geliebtes Mädel, sei von Herzen gegrüßt und in Liebe
geküsst – in ein paar Tagen nicht mehr nur brieflich – von
Deinem Ernst-Günther
Erinnerung: 26. – 28. 10. 56 im Harz
Unsere Liebe ist reifer und wärmer geworden aus der Sicherheit heraus, dass der
andere unbedingt für einen da ist. Trotzdem versichern wir uns immer wieder,
wie sehr wir uns lieben, wenn wir nicht gerade die Lippen aufeinander drücken
und die Zungen abwechselnd in unseren Mündern spielen lassen. Immer wieder muss
ich dich dabei anschauen, so schön ist dein edles Gesicht mit diesem beseligten
Schimmer der Liebe und des Glücks. In diesen Augenblicken gibt es doch Glück,
auch bei mir! ... Neben langen Streifzügen durch den Wald feiern wir deinen
Geburtstag nach. Am Abend zeige ich dir die Cassiopeia, unser großes „Wir“.
Unter fortwährenden Küssen annektieren wir dieses Symbol für unser
gemeinsames Leben. Es wird auch unsere Ringe zieren. Wir vereinbaren unsere
Verlobungsfeier für die Jahreswende bei euch in St. Andreasberg. Als ich dir
sage, dass ich bei deinen Eltern schriftlich um deine Hand anhalten werde,
bekomme ich dein klingendes Lachen zu hören, das ich so liebe. Ich bin ja sonst
nicht für Konventionen dieser Art, aber ich glaube, deine Eltern werden sich
darüber freuen.
Berlin, den 29. 10. 56
W
... Karin, es war wieder wunderschön bei Dir. Ich habe auf der ganzen Rückfahrt an
Dich gedacht. Aber alle Gedanken münden letztlich immer wieder in den
gefalteten Händen: Dank und Bitte. Dank für alles Schöne, Bitte für Dich und
für uns beide. Und das Wissen, dass Du genau so für mich die Hände faltest,
ist eine große Hilfe in dem, was täglich auf mich einstürmt. Allerdings gehört
zu allen Bitten immer das „Dein Wille geschehe!“, natürlich aus dem
Vertrauen heraus, dass dieser Wille doch das Beste ist, was geschehen kann, wenn
es uns auch seltsam oder hart erscheint. Es ist doch so, dass man jeden
Augenblick damit rechnen muss, hier abgerufen zu werden oder einen geliebten
Menschen zu verlieren. Deshalb hat man einerseits die Pflicht, seine persönlichen
(auch gewissensmäßigen) Angelegenheiten immer völlig in Ordnung zu halten –
und das hat nichts mit den „Grillen“ zu tun – und zum anderen muss man
darauf vorbereitet sein, plötzlich allein in der Welt zu stehen. Du weißt, ich
habe das schon erlebt. Gerade daher habe ich diese Einstellung zum Tode
gewonnen, der nicht grausam zuschlägt (wenn das auch der erste Anschein ist),
sondern aus Gottes gutem Plan heraus seinen Auftrag erfüllt. Ich sagte einmal
zu Dir, wenn mir etwas zustoße, solltest Du daran nicht zu Grunde gehen. Ich bitte Dich, dann mit allen Kräften an den Aufgaben des Lebens zu bleiben.
Sei es der Dienst an anderen, sei es später die Erziehung der Kinder, es
gibt immer genug zu tun, wodurch zum Trübsal blasen keine Zeit und zum Hadern
keine Veranlassung ist. Das musst Du mir versprechen.
Meine liebe Karin, sei in Liebe gegrüßt und heiß geküsst von
Deinem Ernst- Günther
Erinnerung: 1. – 2. 12. 56 in Berlin
Die Begrüßungsküsse können wir mit unserer ganzen Leidenschaft erst in
meinem Zimmer austauschen. Doch viel Zeit bleibt uns nicht, die älteren
Pfadfinder veranstalten einen Tanzabend mit ihren Freundinnen und wir können
endlich wieder ausgiebig miteinander tanzen. Leider muss ich dich am Abend
bei deiner Tante abgeben. Als Bettlektüre schenke ich dir den „Südkurier“
von St. Exupery. Ich würde dir viel lieber sein schönstes Buch, den „Kleinen
Prinz“ geben, das ich Dietlind kurz vor ihrem Tode geschenkt und von ihrer
Mutter zurück erbeten habe. Aber aus einer dunklen Angst heraus wage ich das
nicht.
Am Sonntag treffen wir uns an der Ernst-Moritz-Arndt-Kirche. Als wir uns vor der
Tür küssen, ernten wir erstaunte Blicke von einigen, die mich kennen. Der
Gemeindeklatsch hat anscheinend total versagt. Das setzt sich beim Abendmahl
fort, als wir gemeinsam zum Altar kommen und Brot und Wein Hand in Hand entgegen
nehmen. Danach streifen wir durch den Grunewald und sprechen über unsere
gemeinsame Zukunft, die wir ganz klar vor uns sehen. Später in meinem
Zimmer küssen und streicheln uns mit unserer ganzen Leidenschaft. Als ich deine
Brust streichele, möchte ich sie gerne anzuschauen. Behutsam knöpfte ich dir
die Bluse auf und schaue dabei in dein Gesicht, doch du lächelst nur. Mühsam
öffne ich den BH, dann endlich ist deine herrliche Brust frei. Ich kann dieses
Wunder gar nicht genug anschauen, die zierlichen Kugeln mit den roten Warzenhöfen
und den Himbeerspitzen in der Mitte. „Deine zwei Brüste sind wie zwei junge
Rehzwillinge, die unter den Rosen weiden“, zitierte ich ergriffen das Hohelied
Salomos, und ein Anflug von Röte läuft über dein Gesicht, dann küsst du mich
lächelnd. Sachte setzte ich auf jede Himbeere einen zarten Kuss.
Nach vielen heißen Abschiedsküssen ist es schon wieder Zeit, dich zu
deiner Tante bringen, wo du nachts um 4 Uhr abgeholt werden sollst. Doch ich
habe gespürt, dass auch dieses kurze Treffen unsere Gemeinschaft für dich
ebenso wie für mich wieder ein Stück enger gemacht hat. Hab Dank, Geliebte!
Berlin, den 8. 12. 56
W
Geliebtes Mädel, jetzt ist es schon wieder eine Woche her, dass Du hier warst
und wir dieses herrliche Wochenende miteinander verlebten. Wenn ich jetzt einmal
zur Ruhe komme, überfällt mich Erinnerung und Sehnsucht mit solcher Macht,
dass ich nicht weiß, was ich anstellen soll. Das sind die Augenblicke, in denen
ich einfach mit Dir zusammen sein möchte, weiter gar nichts, mit Dir sprechen,
auch Dich küssen. Es braucht gar nicht so leidenschaftlich zu sein, wie wenn
wir uns nur jeden Monat sehen, sondern nur so, als Beweis, dass wir beieinander
sind. Ich werde, wenn ich den Brief zum Kasten bringe, noch ein wenig zur
Krummen Lanke hinunter gehen. Der dunkle Wald und der ruhige See haben mir schon
immer gute Dienste getan, wenn dies unbegreifliche und doch sehr bekannte Sehnen
mit mir durchgehen wollte....
Meine liebe Karin, sei herzlich gegrüßt und geküsst,
Dein Ernst-Günther
Erinnerung: 16. 12. 56 in Berlin
... Mein linker Unterschenkel ist bis zum Scharnier in den schmalen Spalt
zwischen Tür und Wagenkante geschlagen worden. Ich bin hell wach. Als erstes
schalte ich die Zündung aus, damit auslaufendes Benzin sich nicht entzünden
kann. Ich habe keine Schmerzen, kann nur mein linkes Bein nicht bewegen. Als ich
es befühle, spüre ich Knochensplitter und Blut zwischen dem verbogenen Blech.
...
Auf dem Wagen vor dem Operationssaal bricht meine Wachheit und Sicherheit
zusammen wie ein Kartenhaus. Plötzlich wird mir klar, dass mein Bein so kaputt
ist, dass ich nie wieder richtig laufen kann. Was wirst du dazu sagen? Wirst du
mich als Krüppel akzeptieren? Eine furchtbare Ungewissheit kommt über mich.
Soll ich auch dich wunderbaren Menschen wieder verlieren? Schwarze Verzweiflung
übermannt mich, ich beginne zu weinen. - „Warum weinst du?“, fragt Rolf. Da
kommt noch einmal die Entschlossenheit in mir hoch: Niemand soll wissen, dass
ich an deiner Liebe zweifle. „Nur so“, antworte ich und bitte ihn, dich
offen über den Unfall und meinen Zustand zu informieren und um dein Kommen zu
bitten.
Zwei Tage später reiße ich dein Telegramm mit zitternden Händen auf: Als ich deine frohe Botschaft lese, geht in meinem Herzen die Sonne auf. Diese sechs Worte auf dem Tickerstreifen heben endgültig jenes andere, furchtbare Telegramm auf, das mir vor zweieinhalb Jahren Dietlinds Tod kündete:
St. Andreasberg, 18. 12. 56, 15:39
= SEI TAPFER KOMME SONNABEND = KUSS KARIN +
1957 Literaturverzeichnis Seitenanfang
Unsere Idee, von Silvester in die Verlobung hinein zu feiern, müssen wir natürlich begraben. Dafür bekommen wir am Neujahr Vormittag einen eigenen Raum, in den mein Bett geschoben wird. Viele Kameraden sind gekommen und haben Geschenke mitgebracht, als wir uns vor allen Gästen ein Leben miteinander versprechen und gegenseitig die Ringe aufsetzen. Dass wir uns küssen, wird von den anderen lächelnd akzeptiert, wie sie uns auch herzlich gratulieren. Ihr habt einen Kuchen gebacken, mit dem wir unsere Gäste anschließend bewirten. Die im Harz geplante Feier hätte nicht schöner sein können.
St. Andreasberg, den 3. 1. 57
W
Mein lieber Schatz! Für heute nur einen kurzen Gruß, dass ich gestern gegen 16
Uhr gut zu Hause angekommen bin. Ich habe mir einen Schlitten geliehen und bin
nach Hause gerodelt, damit ich den ollen Koffer nicht zu schleppen brauchte. ...
Meine
Schwester ist nun nicht mehr hier, aber ich vermisse sie gar nicht so. Das mag
daran liegen, dass ich noch nicht ganz hier bin, sondern vielmehr im Krankenhaus
Waldfrieden, Zimmer 10, bei Ernst-Günther Tietze. ...
So, mein Liebster, für
heute erst mal Schluss. Wenn Du nicht so viel schreiben kannst, dann denke umso
öfter an mich. Sei schön brav, es grüßt und küsst Dich herzlich
Deine Karin
Berlin, den 5. 1. 57
W
Geliebte Karin, nun bist Du schon wieder vier Tage fort von hier. Es waren
herrliche Tage mit Dir, obwohl wir gar nichts anstellen konnten. Aber einfach
Dein hier sein half mir sehr. Jetzt ist es so schwer, immer noch wieder weiter
zu warten. Die Schmerzen machen mich allmählich verrückt, obwohl ich jede
Nacht vier Spritzen bekomme. Vorgestern hätte ich am liebsten geheult, wenn ich
alleine gewesen wäre. Langsam komme ich mit den Nerven immer weiter runter. Da
ist es schön, dass ich morgen in ein Einzelzimmer komme. O, Karin,
hoffentlich halte ich das durch! – So jetzt habe ich Dir genug vorgejammert,
entschuldige bitte. Schließlich gibt es noch einen Herrgott, der uns zwar
allerlei aufpackt, aber nicht mehr, als man tragen kann. ...
Geliebte, sei von ganzem Herzen gegrüßt und geküsst von
Deinem Ernst-Günther
Erinnerung: 11. 1. 57 in Berlin
Nach genauer Untersuchung teilt mir der Arzt mit, dass die halbe verbliebene
Schlagader meinen Fuß nicht versorgt, er muss Montag amputiert werden. Das ist
für uns beide eine so entscheidende Entwicklung, dass ich dich im Büro anrufe,
um dich zu informieren. Du bist gar nicht schockiert, sondern tröstest mich,
das sei doch viel besser, als mit einem kaputten Fuß zu leben, der nie richtig
zu gebrauchen ist. Deine Worte beruhigen mich ungemein, denn wieder sehe ich:
Was auch geschieht, du liebst mich und stehst zu mir. Über das Wochenende kann
ich mich mit dem Gedanken vertraut machen und immer mehr finde ich deine Worte
richtig. Mit deiner Hilfe werde ich das Leben auch mit einem Fuß meistern. Als
Dank nehme ich mir fest vor, dir nie damit zur Last zu fallen.
Am Dienstag rufst du mich an. Ich bin noch sehr schwach, aber es ist
unwahrscheinlich schön, deine Stimme zu hören und deine Sorge um mich zu spüren.
Hab Dank, Geliebte!
Berlin, den 17. 1. 57
W
Geliebte, das war eine böse Überraschung, als ich Freitag anrief und Dir den
Bescheid gab. Aber ich denke dann immer: lieber gleich raus mit der Sprache, wie
ich auch immer gleich alles wissen muss. Und mir war dann ganz leicht, weil
jetzt endlich eine Entscheidung da war, die das ewige Warten beendete. Nun ja,
ob Dir so leicht war, weiß ich nicht, denn es ist ja doch eine erhebliche
Umstellung. Doch Du hast mich wunderbar getröstet. Nach der Operation kam mir
ganz klar zum Bewusstsein, dass das olle Bein nun ab ist. Ich soll dauernd
gejammert haben: „Meine arme Braut, die muss jetzt einen Krüppel
heiraten!“. An dem Tag war ich kaum bei Besinnung ...
Auch am Dienstag lag ich den halben Tag mit geschlossenen Augen. Doch gestern war es schon viel besser, ich fühlte mich recht
frisch und hatte auch kaum noch Schmerzen. Na, und heute bin ich schon wieder
ganz obenauf. Es zwackt bloß immer einer in den Fuß, der nicht mehr da ist,
das ist gemein. Wenn Du dann erst hier bist, das wird so schön, dass es gar
nicht vorzustellen ist. Da werden wir die Zeit wieder recht ausnutzen. ...
Mädel, lass Dich von Herzen küssen von Deinem
Ernst-Günther
Erinnerung: 2. – 3. 2. 57 in Berlin
Dir fallen Steine vom Herzen, als ich dich stehend begrüße und sogar auf Krücken
mit dir langsam durch den schönen Garten der Klinik wandern kann. - Wir beide
sind froh, dass ich mir die Zusatzversicherung habe aufschwatzen lassen, die
mein Einzelzimmer bezahlt. So können wir ganz für uns sein an diesen beiden
Tagen. Es ist so herrlich, dich in den Armen zu halten, ganz eng an mich zu drücken
und unser beider Leidenschaft in unseren Küssen zu spüren. Und es ist ebenso
herrlich, deine langen, weichen Haare und deine zarte Haut zu streicheln, wie
auch deine zärtlichen Finger mich liebkosen. Zwei Monate haben wir diese
innigen Berührungen entbehrt, jetzt holen wir alles nach. - Doch wir
versprechen uns, mit dem vollkommenen Einswerden zu warten, bis ich uns eine
sichere Existenz gewähren kann. Das dauert noch mindestens ein halbes Jahr, und
im Augenblick fühle ich mich ohnehin noch nicht reif dafür, wenn ich auch
schon lange davon träume. Daraus entsteht ein langes Gespräch über unsere
gemeinsame Zukunft, die ja durch meinen Leichtsinn (ich finde es großartig,
dass du nie ein Wort in dieser Richtung sagst) mit vielen Fragezeichen behaftet
ist. Es ist ein großer Trost für mich, dass du in keiner Weise an dieser
Zukunft zweifelst. Vollkommen sicher machst du mir klar, dass du mir bei allen
Schwierigkeiten, die ich vielleicht haben werde, unbedingt zur Seite stehen
wirst. Das ist fast zu groß für mich, und immer wieder muss ich dich küssen,
um dir zu danken. …
Wie im Fluge vergehen die beiden Tage, doch sie haben mir die letzten Ängste
vor der Zukunft zerstreut und die Gewissheit gebracht, dass ich mich unbedingt
auf dich verlassen kann. Natürlich bin ich traurig, als du mich am Sonntag
Abend wieder verlassen musst und wir das letzte Mal unsere Lippen aufeinander drücken,
aber ich bin auch von großer Ruhe erfüllt.
Berlin, den 4. 2. 57
W
Geliebte, es war ja so herrlich, dass Du die zwei Tage hier warst. Ich zehre
immer noch von der Erinnerung an die wunderschönen Stunden. Immer wieder denke
ich zurück an die schöne Zeit, die wir trotz der Krankenhausatmosphäre
miteinander hatten. Wie dankbar müssen wir sein, dass wir uns gefunden haben
und lieben können. Und ich hoffe nur, dass Dir meine Liebe auch immer wieder
etwas gibt, wo ich so sehr viel von Dir habe. ... Sonst geht es mir prima. Ich
habe heute ¾ Stunden im Garten in der Sonne gesessen und bin eine ganze Menge
gelaufen.
Und wie bist Du nach Hause gekommen? Warst Du sehr müde heute? Ich denke immer
wieder und bei jeder Gelegenheit an Dich. Von Herz zu Herz viele liebe Küsse,
Dein Ernst-Günther
Erinnerung: 2. – 22. 3. 57 in Berlin und im Harz
Du hast eine Einladung deiner Eltern mitgebracht, dass ich mit dir drei Wochen
in den Harz fahre, und Sonntag Abend geht es los. Dort hast du mir dein Zimmer abgetreten und schläfst
irgendwo im Haus. Sowohl die deutschen Strafgesetze als auch die
Moralvorstellungen jener Zeit gestatten nicht das Schlafen Verlobter in einem
Zimmer, weil sich keiner dieser Spießer vorstellen kann, dass es nicht zum
„miteinander“ kommt. Ich glaube, ich hätte ohnehin darauf verzichtet, um
dich nicht ins Gerede zu bringen.
Am Abend küssen wir uns wieder an der dunklen Ecke, wo ich dir im letzten Jahr
die Cassiopeia gezeigt habe, doch dann genügen uns die Küsse im Wald nicht
mehr. Du kommst vom Bad im Nachtanzug zu mir, um mir „gute Nacht“ zu sagen.
Natürlich bleibt es nicht dabei, sondern wir küssen uns leidenschaftlich. Du
hast nichts dagegen, dass ich deine Pyjamajacke aufknöpfe und deine süßen
Himbeeren küsse. Im Vertrauen auf Deine Liebe führe ich deine Hand vorsichtig dorthin, wo du meine Erregung
fühlen kannst, die immer über mich kommt, wenn wir uns innig küssen. Du bist
nicht erstaunt, sondern fühlst behutsam und verstehst dann, worum ich dich
bitte. Obwohl du das bestimmt noch nie getan hast, löst du mir mit zärtlichen
Bewegungen die Spannung, während meine Finger deine wunderschöne Brust
liebkosen und unsere Zungen sich wild umschlingen. Nun kennst du wieder ein Stück
mehr von mir – und auch meine Wildheit im tiefsten Erleben.
Ich weiß ja überhaupt nicht, was du als Frau in solchem Moment fühlst und
frage dich. Es ist mir wichtig zu wissen, ob du mir nur einen Gefallen getan
hast. Deine Worte „Es war auch für mich schön, denn ich weiß jetzt, wie es
dir dabei geht und liebe dich noch mehr“, beruhigen mich ein, mehr sagst
du nicht. Erst im Laufe der Zeit begreife ich, dass es nicht deine Art ist, viel
über körperliche Liebe zu sprechen. „Liebe redet nicht, sie liebt!“, lese
ich später in einem Gedicht, das ich dir schicke.
An den nächsten Abenden findet deine Hand ganz allein ihren Weg, nachdem ich
deinen fragenden Blick gerne bestätigt habe. Auch ich möchte dir ja in dieser
Art meine Liebe zeigen, doch ich weiß überhaupt nicht, wie ich es anstellen
soll. Als ich dir über den Bauch streiche, hältst du meine Hand behutsam fest.
Du weißt, dass ich dir nie etwas gegen deinen Willen tun werde.
Wir lesen auch viel gemeinsam an den Abenden. Einer liest vor und der andere
freut sich, die Stimme des Geliebten zu hören. Ich habe das Buch „Tausend Brücken“
mit, das Dietlinds Mutter mir nach ihrem Tode geschenkt hat. Ein Elsässer
erweckt eine alte Burg zu neuem Leben und gerät dabei zwischen die Fronten des
deutschen und französischen Nationalismus. Als dann am letzten Freitag die
Abschiedsstunde schlägt, sind wir uns viel näher gekommen und haben uns
wesentlich besser kennen gelernt als bei den kurzen Treffen bisher – in allem
was wir uns schon gestattet haben. Die Küsse sind kurz, wir haben genügend in
ganz anderer Weise getauscht.
Berlin, den 23. 3. 57
W
Geliebte, ... ich denke immer wieder an die drei herrlichen Wochen bei Dir zurück
und wünsche, sie wären noch nicht vorbei. Da sage noch einer, das Leben sei
nicht schön, wo man es sich doch gegenseitig so schön machen kann. Aber nicht
mehr lange, dann ist uns diese Möglichkeit für dauernd gegeben und es hängt
von uns ab, ob wir sie nutzen und das Beste aus unserem Leben machen. ...
Für heute grüße ich Dich, mein liebes (Schäfchen) Schätzchen und küsse
Dich wie dort jeden Abend, Dein Ernst-Günther
St. Andreasberg, den 27. 3. 57
W
Mein Lieber! Habe gestern mit viel Freude Deinen Brief erhalten, herzlichen Dank
dafür. ... Mein kleiner lieber Affi (Rache vom Schäfchen), ... wenn ich so an
unsere letzte gemeinsame Zeit zurück denke, ist mir, als wenn Du gestern noch
hier warst. Ich muss dann erst überlegen, was ich in der Zwischenzeit
eigentlich getan habe. ... Mein Bettzipfel zieht. Schatzi! Sei von Herzen gegrüßt
und geküsst von Deiner Karin
Berlin, den 29. 3. 57
W
Meine liebe Karin, herzlichen Dank für Deinen lieben Brief. Ich schreibe gleich
zurück, so kriegst Du den Brief noch zum Montag. ... Der Amtsarzt sagt, mein
Bein sei erst in vier Wochen reif für die Prothese. Das ist blöd, ich dachte,
ich werde jetzt bald die elenden Krücken los. Und für einen
Schwerbehindertenausweis bin ich nicht beschädigt genug, ich bekomme nur 40 %.
Ich habe mich doch gefreut, dass ich nicht so krank bin, wie ich immer dachte.
...
Auch ich bin mit den Gedanken immer noch in St. Andreasberg. Mal streife ich mit
Dir zusammen durch die Gegend, mal sitzen wir beieinander und lesen, mal liege
ich auch schon im Bett und Du küsst mich zur guten Nacht und mehr. Mädel, es
war eine herrliche Zeit, und wenn ich daran denke, dass wir in gar nicht langer
Zeit immer beieinander sein werden, alles persönlich besprechen können und uns
die Küsse nicht per Federhalter, sondern von Mund zu Mund geben, dann freue ich
mich immer wieder. ... Sei herzlich gegrüßt und geküsst von
Deinem Ernst-Günther
Erinnerung: 19. – 22. 4. 57 in Berlin
Du kommst nach Mitternacht und es ist so wunderschön, wieder deine Lippen zu
schmecken. Doch nachdem du noch eine Kleinigkeit gegessen hast, sind wir ganz
brav und verziehen uns nach heftigen Gute-Nacht-Küssen in unsere getrennten
Schlafzimmer.
Sonntag früh Kirchgang. Ich finde, Ostern ist das schönste Fest im
christlichen Kalender, noch schöner als Weihnachten. Dieses jubelnde „Christ
ist erstanden!“ sagt mir viel mehr. Der auferstandene Christus ist für mich
eine Realität, das Kind in der Krippe nur eine Verheißung. Vielleicht spielt
auch mit hinein, dass zur Osterzeit der Frühling mit Macht einzieht, Wärme und
Freude verheißend. Nach dem Gottesdienst machen wir unseren Osterspaziergang durch den Grunewald.
Es ist mir gelungen, ein bisschen Geld zusammen zu kratzen. So kann ich dich zum Essen in die „Fischerhütte“ einladen. Es ist ein Fest
für mich, dass du die Einladung annimmst und wir zum ersten Mal gemeinsam in
einem gepflegten Restaurant ein Festtagsmenü genießen.
Nach dem Kaffee gehört der Nachmittag uns beiden ganz allein. Bis in den späten
Abend zeigen wir uns unsere Liebe durch heiße Küsse und innige Berührungen.
Wieder darf ich deine süßen Himbeeren küssen und wundere mich über ihre
Empfindlichkeit, während deine zärtlichen Finger sich noch genau erinnern, wo
sie mir so wunderbar wohl getan haben.
Dann ist schon wieder die Zeit der Trennung da. Jedem wühlt die Trauer über
den bevorstehenden Abschied in der Seele. Als es draußen hupt, müssen wir uns
regelrecht voneinander los reißen.
Berlin, den 25. 5. 57
W
Liebste, herzlichen Dank für deinen Brief. In zwei Wochen bist Du schon hier
und wir werden es uns schön machen. ... Gestern habe ich einen Holzklotz
anprobiert, der einmal mein linker Unterschenkel werden soll. Wenn Du kommst,
springe ich Dir schon entgegen. Bis dahin viele feurige Küsse von Deinem
Ernst-Günther
Mein Herz, ich will dich fragen,
was ist die Liebe, sag?
„Zwei Seelen, ein Gedanke, zwei Herzen und ein Schlag!“
Woher kommt denn die Liebe? „Sie kommt nicht, sie ist
da!“
Und sprich, wie schwindet Liebe? „Die war’s nicht,
der’s geschah!“
Was ist denn reine Liebe? „Die ihrer selbst vergisst!“
Und wann ist sie am tiefsten? „Wenn sie am stillsten
ist!“
Wann ist die Lieb’ am reichsten? „Reich ist sie, wenn sie
gibt!“
Und sprich, wie redet Liebe? „Sie redet nicht, sie
liebt!“
Friedrich Halm
Erinnerung: 7. – 10. 6. 57 in Berlin
Es ist herrlich, dich zu sehen, in die Arme zu nehmen und zu küssen. Doch du
bist müde und fällst nach ein wenig Essen ins Bett.
Vorsichtig, damit Frau Kroeger nichts hört, schleiche ich am Abend in mein
Zimmer und zu dir ins Bett. Du bist gar nicht überrascht, ich glaube fast, du
hast mich erwartet. Ganz ruhig lässt du dir den Pyjama ausziehen, du vertraust
mir vollkommen. Wir umarmen uns zum ersten Mal ohne störende Kleidung,
streicheln und liebkosen uns, es ist wunderbar, die zarte Haut deines blühenden
Körpers ganz an meinem zu fühlen. Jetzt verwehrst du es meiner tastenden Hand
nicht mehr, deine intimen Geheimnisse zu liebkosen, von denen ich bisher nur aus
Büchern weiß. Behutsam führst du meine Finger, und wenn ich dein heftiges
Atmen richtig deute, das ganz neu und unbekannt für mich ist, bereite ich auch
dir Lust wie du mir.
Eng umschlungen küssen wir uns, bis die Erregung abgeklungen ist. Als ich den
Kopf auf deine Brust lege, höre ich dein Herz schlagen. So etwas habe ich noch
nie gehört, und nun dein Herz, von dem ich weiß, dass du mich darin bewahrst!
Das ist überwältigend für mich.
Nach dieser wunderbaren Nacht sind wir froh, keine Besuche machen zu müssen. Da
ich schon etwas besser laufen kann, gehen wir zur Krummen Lanke. Ich will
ausprobieren, wie ich ohne linken Fuß schwimmen kann, denn die Prothese ist
nicht wasserfest. Das Hineinkommen geht mit deiner Hilfe ganz gut, das Schwimmen
ist problemlos.
St. Andreasberg, den 12. 6. 57
W
Mein geliebter Ernst-Günther! Heute nur kurz. Du siehst an der Schrift, dass
ich noch nicht ganz klar bin. Auch bin ich mit den Gedanken noch nicht hier,
sondern in Berlin bei Dir. Es war wieder so schön. Es sind ja bis jetzt immer
nur Stunden des Zusammenseins gewesen, aber für diese Zeit können wir sehr
dankbar sein. Ich freue mich sehr auf den Urlaub, da haben wir mehr voneinander.
...
Gestern kam ich hier bei Regenwetter mit Nebel an. Ich habe 12 Stunden gepennt
und bin noch nicht ausgeschlafen. ... Ich bin ja riesig gespannt, was Du mir aus Hamburg
zu berichten hast, und vor allem, ob Du bei den HEW angekommen bist. Ich habe
dauernd an Dich gedacht. ...Mein lieber Schatz, hoffentlich bekommst
Du den Brief noch vor Deiner Abfahrt nach Hamburg. Für heute genug. Es grüßt
und küsst Dich herzlichst Deine Karin
Berlin, den 20. 6. 57
W
Geliebte Karin, nun will ich schnell schreiben, damit Du Deinen Sonnenstich los
wirst, beim Lesen von Liebesbriefen geht so was noch am ehesten weg. ... Ich
wusste gar nicht, dass Du neugierig sein kannst, so bin ich ja nicht alleine
diesem Laster verfallen. Der Oberbauleiter bot mir je ein Jahr Konstruktion und
Bauleiterassistent an, danach selbstständige Arbeit, Anfangsgehalt 534.- DM.
Als ich sagte, dass ich ein Holzbein trage, fiel er fast vom Stuhl. Er hatte das
gar nicht bemerkt. Schließlich entschloss er sich, es zu probieren. Ich soll
mich gleich nach der Prüfung bewerben und zum 15. 8. anfangen. Ich war sehr
froh, als ich die HEW verließ. Ich habe nie bezweifelt, dass ich Arbeit
bekommen werde, aber gerade an dieser Stellung liegt mir viel. Und was sonst
noch dran hängt! Liebste, ich glaube, wir können Anfang nächsten Jahres
heiraten! ... Dich interessiert sicherlich, wie ich laufe. Es geht prima.
Lass
Dich herzlich küssen von Deinem
Ernst-Günther
St. Andreasberg, den 12. 7. 57
W
Mein Lieber! ... Sag
mal, wird Dietlinds Mutter nicht traurig sein, wenn Du mich dort als deine Braut
vorstellst? Du, heute in 14 Tagen fahren wir los! So langsam fange ich an,
zappelig zu werden. ...
Mein Lieber, Deine große Prüfung ist ja erst Dienstag.
Bei mir war Montag immer der 16. 7. Ich drücke dann die Fäuste für Dich, die
Daumen sind sicher zu wenig.
Ich muss Dich loben, Du hast wirklich sehr fleißig geschrieben in der ganzen
Zeit. Ich dagegen nicht so sehr. Heute wird es auch wieder kurz. Mein Schatz,
Schluss, Kuss und sei nicht mehr traurig, dass Du so allein bist. Erstens denke
ich ja immer an Dich und zweitens ist es nicht mehr lange bis zum Urlaub, dann
sind wir lange zusammen. … Sei herzlich geküsst und abgedrückt von
Deiner Karin
Berlin, den 16. 7. 57
W
Geliebte, nur ganz kurz: es ist vollbracht! Ich habe die gewünschte „drei“
erreicht, ohne überhaupt in die mündliche Prüfung gemusst zu haben. Nun ist
es so weit, die letzte Klippe vor Hamburg ist umschifft. Dienstag bekomme ich
mein Zeugnis, da werde ich gleich die Bewerbung abschicken.
Hab herzlichen Dank für Deinen lieben Brief. Über die Frage mit Dietlinds
Mutter habe ich auch schon nachgedacht. Aber erstens lag eine Einladung von ihr
vor, Dich dort „vorzuführen“ und zum zweiten ist sie eine gläubige
Christin, die sich über das Glück anderer freut. ... Wir wollen nicht das
ganze Stück von Landstuhl nach Straßburg laufen, sondern viel mit der Bahn
fahren und zwischendurch zwei- bis dreitägige Wanderungen mit Zeltzeug in die
Umgebung machen. ...
Mein liebes Kind, bald schreibe ich mehr, bis dahin in Liebe viele Küsse
Dein Ernst-Günther
St. Andreasberg, den 19. 7. 57 (mit Blümchen)
W
Mein lieber Ernst-Günther! Hab herzlichen Dank für Deinen Brief. Vor allem
gratuliere ich Dir zum bestandenen Examen. Ich freue mich mächtig, dass Du es
geschafft hast. Und ich freue mich jeden Tag mehr auf unseren Urlaub, der immer
näher kommt. Deine Hauptprüfung ist mir etwas auf den Magen geschlagen, ich
konnte nichts essen, wie komisch von meinem Magen! –
Mein Liebling, sei herzlichst abgedrückt und geküsst (so gut, wie es per Post
geht), Deine Karin
Literaturverzeichnis Seitenanfang
26. 7. 57
Jahrelang bin ich auf Fahrt gegangen, es gab kein Reisefieber mehr für mich –
und nun ist es wieder da. Kein Wunder, die erste Reise mit Dir liegt vor mir und
as Leben mit Dir, das wie ein unbeschriebenes Buch vor mir liegt, ist wirklich
ein ganz neues, bisher nie erlebtes. Das ist doch Grund genug zur Aufregung. Ach
Liebste, ich freue mich so sehr auf das Zusammensein mit Dir.
Ich stehe am Fenster, als wir aus Berlin hinaus fahren. Trotz der Freude auf das
Wiedersehen mit Dir bin ich etwas wehmütig. Sechsundzwanzig Jahre habe ich hier
gelebt und diese Stadt lieb gewonnen.
28. 7. 57
Ich brauche Dich für einen Weg, den ich jetzt nicht mehr allein gehen will: zu
Dietlinds Grab. Das Andenken an sie, das mir zu einer schönen Erinnerung
geworden ist, darf nicht neben Dir stehen, sondern es gehört mitten hinein zu
uns beiden. Du hast sie nie kennen gelernt, aber erst wenn sie auch Dir Freundin
gewesen sein könnte, stehst Du richtig zu ihr. Ich bin etwas bange aber dann
empfinde ich große Freude, als ich sehe, wie Dir dieser Weg selbstverständlich
ist. Wir erstehen einen Strauß rote Gladiolen mit einem weißen Stiel
dazwischen. Dass Du sie bezahlst, ist eine Geste, die mich unwahrscheinlich
freut. Als Du die Blumen vor das schlichte Holzkreuz stellst, küsse ich Dich,
ganz gegen alle Sitte des Friedhofes. Aber ich muss Dir danken, dass Du mir auch
hier nahe bist, so nahe, als wären wir nur noch eine Seele. O, Du wunderbares Mädel,
immer wieder offenbarst Du wie selbstverständlich ein neues Stück Deiner Größe.
30. 7. 57
Neuwiller-les-Saverne ist ein Dorf zwischen Berg und Rheinebene. Das Hôtel du
Cerf scheint uns gut und billig. Wir verlangen zwei Einzelzimmer. Die Wirtin
bietet uns ein Doppelzimmer, da sie nicht genug einzelne Betten habe. Ich schaue
Dich an und sehe ein Lächeln auf Deinem Gesicht.
Abends ziehst Du Dich ganz unbefangen aus, so dass ich zum ersten Mal deine
wundervolle Schönheit im warmen Licht der Lampe bewundern kann. Mir ist, als
sehe ich ein Opfer mit an, das du der Liebe bringst. Im Pyjama schlüpfst du zu
mir unter die Decke. Behutsam ziehe ich uns aus und wie zu Pfingsten drücken
wir unsere Körper aneinander und streicheln uns zärtlich. Doch als du mich
intim streicheln willst, halte ich deine Hand zurück. „Liebste“, flüstere
ich, „du hast mir diese Liebe schon oft erwiesen, heute könnten wir uns ganz
finden, wenn du es auch willst. Du weißt, ich werde dir nie etwas gegen deinen
Willen tun.“ Du tust einen kleinen Seufzer und antwortest lächelnd: „Ich
will es doch auch schon lange!“
Es gibt Gedanken, die nur abends kommen, andere, über die man nur abends
sprechen kann. Aber das tiefste Gespräch wird Vorstufe und Zwischenspiel. Wenn
zwei sich ganz nahe sind in großer Liebe, bedarf es keiner Worte. Denn wir
fühlen
beide das Gleiche, du und ich, weil wir nicht mehr zwei Wesen sind, sondern
eines. Kein Dichter hat das Wunder der körperlichen Liebe so wunderbar
beschrieben wie Jesus: „Und sie werden sein ein Fleisch“.
31. 7. 57
Als ich aufwache, ist mir, als hätte ich einen wunderschönen Traum gehabt.
Hast du mir wirklich das größte Geschenk gegeben, dessen eine Frau fähig ist,
ihre Unberührtheit? Ich weiß, dass ich um dich geworben habe, aber ohne deine
Zustimmung, dies feine, nur wertvollen Frauen eigene Entgegenkommen wäre ich
nie so weit gegangen. Vorsichtig frage ich dich. Doch du küsst mich nur zärtlich,
dann singst du leise:
„Guten Morgen, guten Morgen,
guten Morgen, Sonnenschein!
Diese Nacht blieb dir verborgen,
doch du musst nicht traurig sein!“
Unendlich groß ist deine Liebe! Ich habe nie daran
gezweifelt, dass ich der erste Mann für dich bin, und dein kurzes Zucken hat
mir diese Gewissheit bestätigt. Auch du bist nicht erstaunt, dass ich dies große
Erleben noch mit keiner Frau geteilt habe. Lange genießen wir den Morgen. Später, als
wir im Garten sitzen und Briefe schreiben, muss ich Dich immer wieder ansehen.
Du bist noch dieselbe wie gestern, und trotzdem sehe ich Dich anders, jetzt, da
keine Schranke mehr zwischen uns ist. Ist es, weil ich Dich jetzt noch mehr
liebe?
Wir wandern mit den Fahrtenklamotten zur Hünenburg. Am Maibächel bauen wir
unser Zelt. ... Ich freue mich über die Begeisterung, mit der Du das
Fahrtenleben aufnimmst, das Zelten, Kochen am Feuer, das doch alles neu und
ungewohnt für Dich ist. Mancher Junge stellt sich ausgesprochen blöd an dabei,
aber Dir geht das alles leicht von der Hand. ...
Am Abend sitzen wir am Feuer beim Tschaj. Du sagst nicht viel. ... Als wir leise ein paar Abendlieder zur Klampfe singen, fliegt ein
Schmetterling ins Feuer. Da steigt in mir wieder die Frage auf: Wozu dieses
Leben mit all seinem Kampf, seinem Jammer, den paar schönen Stunden, wozu
dieser ewige, ineinander verzahnte Kreislauf aus Leben und Leid, Freude und Tod?
Nun, da der Anstoß zum ernsten Gespräch gegeben ist, erzähle ich Dir, wie ich
meinen Weg fand. Vom ersten Versprechen, bei der Versetzung in der Schule ein
guter Christ zu werden, bis zu dem Zeitpunkt, als Gott von sich aus mein
Versprechen wahr machte, war es ein krummer und oft unverständlicher Weg:
-
die Einladung zur Evangelischen Jugend und die erste Begegnung mit
der Bibel und gläubigen jungen Menschen,
-
die harte aber wirkungsvolle pfadfinderische Erziehung durch Panje
nach dem Freitod meiner Mutter und der Ausgleich durch die tiefe Freundschaft
mit Bringfried,
-
die Entscheidung 1953, nach dem ersten totalen Misserfolg den
Stamm neu aufzubauen, und die prächtigen Jungen, durch deren
Einsatzbereitschaft es so toll gelang,
-
die Liebe zu Dietlind und ihr Tod, mit Bringfrieds brüderlicher
Hilfe und Panjes scheinbar hartem Trost, dass ich nicht um sie trauere, sondern
nur um meine unerfüllten Hoffnungen,
-
die wunderbare Gemeinschaft mit Dir, die mir ein neues frohes
Leben schenkt, und die großartige Bestätigung Deiner Liebe nach meinem Unfall
bis jetzt zum tiefsten Einswerden.
In all diesem ist Gottes Wirken zu erkennen, durch all dies hat er mich entscheidend geformt. Jetzt werden wir gemeinsam daran gehen, das alte Versprechen zu erfüllen. Und wir falten die Hände und bitten um Liebe zwischen uns beiden, die das Leben lang dauert, und um Segen für den Bund, den wir beide geschlossen haben. Mit diesen Waffen können wir alles meistern, was vor uns steht – und das wird nicht wenig sein. Dann, während das Feuer langsam verglüht, liegen unsere Lippen aufeinander zur stummen Bekräftigung der Worte. Am Himmel steht das große „W“, das Symbol unserer Gemeinschaft.
1. 8. 57
Es gibt Stunden, in denen die Liebe alle Bedenken aufwiegt. Wir wissen, dass wir
uns den Beginn unseres gemeinsamen Lebens sehr erschweren können. Sind wir
deshalb sträflich leichtsinnig, dass wir uns einander hingeben in die Zeit- und
Raumlosigkeit tiefsten Erlebens? Ich fühle jedenfalls weder Bedenken noch
Schuld und auch Dir merke ich zum ersten Mal die große Freude an. Sie ist
sicher ganz anders als bei mir, aber ich spüre, dass Du alles Hemmende über
Bord wirfst und Dich ganz gibst für dieses Einswerden, als wenn Du tief
einatmest. Dies zu fühlen, macht mir die Nacht noch schöner und großartiger
als die erste. So wenig wie es Worte gibt, solch eine Begegnung zu beschreiben,
sind Worte gefunden, Deine Liebe zu beschreiben, Du wunderbare, unbegreifliche
Frau!
2. 8. 57
Die alte Abteikirche St. Peter und Paul ist sehenswert. Der älteste Teil, die
Gruft, stammt aus dem 8. Jh. Daran ist im 10. Jh. nach Osten eine romanische
doppelstöckige Klosterkirche angebaut worden. Der untere Teil ist eine Säulenhalle,
der obere zeigt klassischen Basilikastil mit hohem Haupt- und niedrigeren
Seitenschiffen. ... An diese Kirche wurden im 12. Jh. über der Gruft nach
Westen ein hoher Chor, eine spätromanische Vierung mit hohem Turm und ca. 10 m
Langschiff angebaut, wodurch die Kirche ein gleichschenkliges Kreuz bildete. Im
14. Jh. wurde das Langschiff ohne Übergang gotisch erweitert. Der barocke
Hauptturm über dem Eingang ist der letzte Anbau.
Nachmittags fahren wir in die Kreisstadt Saverne. Mutter Teuffel hat uns den Bœuf
Noir empfohlen, wo wir ein schönes kleines Zimmer bekommen.
Heute siehst Du unsere Verantwortung ganz klar. Es heißt
zwar, die Frau kann sich leichter zurück halten, was mit ihrer geringeren
Erregungsfähigkeit erklärt wird, doch seit gestern Abend weiß ich, dass das
nicht stimmt. Du bist einfach stärker als ich. Was habe ich mir auf meine
Willensschulung als Pfadfinder eingebildet, und nun kommst Du als Mädel, das
nicht durch solche Schule gegangen ist und beschämst mich. Der Mann kann wohl
nur durch die Liebe seiner Frau die Versuchung überwinden, wenn ihn eine andere
Frau beeindruckt, und wenn das nicht gelingt, braucht er ihre Vergebung. Du
hattest schon davon gehört und es beunruhigt Dich. ... Ich erzähle Dir, dass
ich schon lange um den Bestand unserer Liebe die Hände falte. So wird auch
dieser Abend zu einem großen Erlebnis, bei dem ich lerne, dass geistige
Gemeinschaft durchaus der körperlichen gleichwertig sein kann, wenn sie, wie
diese, letzte Tiefen erschließt.
4. 8. 57
Der Gottesdienst ist gemischt deutsch und französisch, dadurch werden die französischen
Menschen uns zu geistlichen Brüdern. Seit ich klar denken kann, ist die
„Erbfeindschaft“ für mich ebenso absurd wie die Erbsünde und ich habe mich
dagegen gewandt, wo es mir möglich war. Dies aber ist mehr: Es reißt die
letzten vom Volkstum kommenden Unterschiede nieder. Vor Gott sind wir alle
gleich. Vom französischen Abendmahl verstehen wir nichts, trotzdem wird uns im
Brot und Wein die Liebe und Vergebung Christi genau so bildhaft wie mit
deutschen Worten. Nie habe ich mit Dir zusammen das Abendmahl so bewusst
genommen wie nach dieser Woche. Nicht etwa, dass ich mich sündig fühle, nein,
ich sehe darin die Bestätigung unserer nun ganz engen Gemeinschaft durch Gott.
8. 8. 57
Wir sind früh im Straßburger Münster. Mönche halten eine Messe im Chorgestühl,
ihr mystischer Singsang füllt die in Dämmerlicht gehüllte Kirche. Wir sehen
im Innern der Kirche alle Figuren an, die Propheten und Jungfrauen am nördlichen
und südlichen Portal der Westfassade, die Pieta, Salomo, Synagoge und Ecclesia
am Südportal und die Rose. Dazu den Engelpfeiler im südlichen Querschiff. Auf
der Plattform der Westfront erkennen wir die ganze Eleganz der Strebebögen, die
den oberen Teil des Langhauses mit dem Dach abfangen. Nur großartige Geister
konnten solche Bauwerke schaffen, zwar auch für das Ansehen der Stadt, aber
hauptsächlich doch zur Ehre Gottes. Auf der Plattform mit ihrem einzigartigen
Blick über die Dächer der Stadt sind wir uns einig: Zu Stein gewordenes Gebet.
Der Ingenieur in mir sträubt sich gegen die vielen Verzierungen, aber der großen
Harmonie des Ganzen kann auch ich mich nicht verschließen. Die Männer, die
hier bauten, sprechen durch Jahrhunderte zu uns, und nach Jahrhunderten würde
ihr Werk noch Gültigkeit haben.
9. 8. 57
Mit Regen klingt der Tag aus, während wir still unsere Koffer packen und den
letzten Wein miteinander trinken. Und als wir uns zum letzten Mal für lange
Zeit eine gute Nacht wünschen, sagst du mir glücklich, dass die herrlichen Nächte
unserer Liebe uns nicht belasten werden. Erst aus deiner sichtbaren
Erleichterung wird mir klar, wie viel schwieriger für dich schon jetzt ein Kind
wäre als für mich. Auch wenn ich dir in jeder Beziehung zur Seite gestanden hätte,
der Hauptanteil wäre bei dir geblieben. Wir haben Gott sehr viel zu danken.
10. 8. 57
In der Bahn sind wir schon etwas getrennt voneinander, weil andere neben uns
sitzen und ein tieferes Gespräch unmöglich machen. So nehmen wir uns noch
einmal das Merianheft vor, denn die Stadt lässt uns noch nicht los. In Göttingen
steigst du aus und wir küssen uns zum Abschied. Die herrlichen Tage sind
vorbei, aber die Erinnerung wird uns helfen, die Zeit zu überdauern.
Stunden später fährt der Zug in unsere neue Heimat ein. Wieder stehe ich am
Fenster und schaue hinaus, diesmal auf die Elbbrücken, den Hafen und die Stadt.
Gemeinschaft und Freude, aber wohl auch Schlimmes werden uns hier erwarten.
Gemeinsam werden wir stark sein, es zu nehmen. Und ich falte die Hände, um Gott
unsere Zukunft in dieser Stadt anzuvertrauen.
St. Andreasberg, den 11. 8. 57 Mein lieber Ernst-Günther!
W
Nun ist der Urlaubstraum zu Ende und wir sehen erwartungsvoll den nächsten
Ereignissen entgegen, erst mal wie Du mit Deiner neuen Stellung zurecht kommst
und dann, was mit mir wird. Meine Kündigung ist praktisch schon entschieden.
Die Fa. Lupo will mich zum 1. 10. einstellen und ich soll das bestätigen. ...
Mein Schatz, Schluss für heute. Sei lieb gegrüßt und geküsst von
Deiner Karin
Hamburg, den 12. 8. 57
Geliebte,
W
... Von unserer Reise habe ich an so viel Schönes zu denken, dass ich gar nicht
weiß, wo ich anfangen soll. Es war einfach herrlich, vom ersten bis zum letzten
Tag herrlich und wunderschön. Hab Dank, Geliebte! ... Ich kann die Zeit kaum
erwarten, bis wir uns wieder sehen, ja bis wir ganz beieinander sind. Ich bin
nach diesen wundervollen gemeinsamen Tagen immer mehr froh, dass wir zueinander
gefunden haben. Und ich freue mich auf das, was vor uns liegt, weil wir es bald
gemeinsam angehen können. Dadurch wird das Gute schöner und das Böse nicht so
schlimm. Sei von ganzem Herzen und in Liebe geküsst von
Deinem Ernst-Günther
Hamburg, den 22. 8. 57 Geliebtes Kind,
W
hab Dank für Deine beiden Briefe. Heute war ich zu Herrn Abel, dem Leiter der
HEW-Netzschutzabteilung geladen, der einen Ingenieur sucht. Er schilderte mir
ausführlich mein künftiges Arbeitsgebiet mit komplizierten Einrichtungen, die
Fehler auf Betriebsmitteln blitzschnell abschalten. Dieser Mann machte einen
sehr positiven Eindruck auf mich. Er hat mich durch seine Persönlichkeit
beeindruckt, ist noch recht jung und scheint zu wissen, was er will. ...
Geliebtes Herz, nur fünf Wochen dauert es noch, bis Du hier bist, trotzdem kann
ich es kaum noch erwarten. Dann fängt eine festliche Zeit an, die nicht wieder
aufhört. Jeder Tag wird zum Feiertag werden durch unsere Liebe, wenn er auch
sonst noch so widerwärtig sein mag. …
Mein lieber Schatz, lebe wohl bis zum nächsten
Mal, in fünf Wochen bist Du schon hier.
Viele herzliche Küsse von Deinem Ernst-Günther
St. Andreasberg, 26. 8. 57 Mein lieber Ernst-Günther
W
... Ich muss mich über mich selbst wundern. Seit ich gekündigt habe, sage ich
meinem Chef die Meinung und erlaube mir Dinge, wovor ich früher Scheu hatte.
Wenn ich nur erst in Hamburg wäre und mit Dir sprechen könnte. Ich kann mir
das noch gar nicht vorstellen. – Mein Liebling, sei herzlich geküsst von
Deiner Karin
Hamburg, den 27. 8. 57
Liebste,
W
für Deinen Brief danke ich Dir ganz herzlich. Ich habe schon solche Sehnsucht
nach Dir, da ist jeder Brief eine Aufmunterung. Ach, wenn doch diese Wartezeit
erst vorbei wäre! Mir kommt es wahrscheinlich auch deshalb so lange vor, weil
ich noch nichts zu tun habe. Aber jeder Tag, der vergeht, bringt uns einander näher.
Sonntag Nachmittag war Marga fast sechs Stunden bei uns. Dir müssen die Ohren
geklungen haben, denn Du warst immer wieder Gesprächsthema. Ich habe beiläufig
von unserem Zelten erzähl, da staunte sie. ...
Dass Du Deinem Chef jetzt sagst,
was Dir nicht passt, finde ich ganz toll. Du weißt, ich kann Mädchen nicht
leiden, die sich alles gefallen lassen, ohne Muck zu sagen. Und wenn Du es jetzt
gelernt hast, wirst Du es auch später nicht vergessen.
Geliebtes Herz, ich nehme Dich beim Pferdeschwanz und küsse Dich herzlich,
Dein Ernst-Günther
St. Andreasberg, 29. 8. 57 Mein lieber Ernst-Günther!
W
Für Deine beiden letzten Briefe herzlichen Dank. Ich war etwas erschrocken,
dass Du Marga vom Zelten erzählt hast. Ich hätte das nicht getan, höchstens
meiner Schwester. ...
Mein Schatz, oder lieber Liebster (habe ich heute gelesen,
mal eine Abwechslung), sei herzlich geküsst. Beim Pferdeschwanz lasse ich mich
nicht nehmen, das ziept. Ich küsse Dich, Deine
Karin
Hamburg, den 1. 9. 57 Mein liebes Mädel,
W
... Entschuldige bitte, dass ich Marga vom Zelten erzählt habe. Ich habe mir
gar nichts dabei gedacht, weil Du es Deiner Schwester auch erzählen wolltest,
aber schon aus ihrer Reaktion gemerkt, dass es vielleicht nicht richtig war. Ich
weiß nicht, welche schmutzigen Fantasien die Leute entwickeln, wenn zwei junge
Menschen verschiedenen Geschlechts miteinander zelten. Im Zelt waren wir doch
ganz brav, es wäre wohl ziemlich eng und kühl gewesen, und für mich passte es
auch nicht zu der besonderen Atmosphäre des Abends am Feuer. Viel gefährlicher
sind doch die Doppelbetten in französischen Hotels, die man dort, anders als in
unserem moralinsauren Land, ohne Frage nach dem Trauschein bekommt. ...
2. 9. Geliebte, es ist so weit: morgen fange ich an! Ich
wurde für monatlich 534,- DM eingestellt, mit Weihnachts- und Urlaubsgeld 14
mal. Die Probezeit läuft bis zum 30. 11. Ach, Mädel, ich bin so froh, dass das
Warten vorbei ist, dass ich jetzt auf unser gemeinsames Leben hin arbeiteten
kann, dass ich selber auch produktiv sein und Werte schaffen kann. Wenn Du nun
erst hier bist, ist alles herrlich und schön. Sei in Liebe geküsst von
Deinem Ernst-Günther
Ab 28. 9. 57
Viele Briefe gehen noch zwischen uns hin und her, bis du in Hamburg eintriffst.
Ich stehe auf demselben Bahnsteig, auf dem wir uns vor einem Jahr verabschieden
mussten. Was für ein Unterschied der Gefühle! „Herzlich willkommen in unserem gemeinsamen Leben“,
will ich sagen, doch vor Freude bekomme ich kein Wort heraus. So drücke ich
dich nur ganz fest an mich und du tust das Gleiche, während unsere Zungen
miteinander spielen. Wir wissen: Dies ist der Beginn unserer gemeinsamen
Zukunft. Nie wieder wollen wir uns trennen. Meinen Rosenstrauß habe ich noch
immer in der Hand, endlich kann ich ihn dir geben und freue mich, dass er dir
gefällt. ...
Oftmals abends und an jedem Wochenende treffen wir uns jetzt. Manchmal holt der
eine den anderen von der Arbeit ab. Wir streifen bei dir durch den Sachsenwald
oder bei mir an der Elbe entlang, oder gehen ins Kino. Langeweile gibt es
nicht.
Ich sehne mich, dir wieder einmal ganz nahe zu sein. Als ich dich darauf
anspreche, erkenne Ich voller Freude, dass zwischen uns diese geheimnisvolle
Gedankenbrücke besteht, die es nur zwischen Liebenden gibt. Du hast schon
berechnet, dass es am Wochenende 16./17. 11. gefahrlos möglich ist. Wir fahren
Freitag gleich nach der Arbeit zu einem Hotel in der Nordheide. Auf dem
Anmeldeformular notiere ich „Karin Tietze, geb. Elsholz“. Es ist herrlich für
uns, endlich wieder eins werden zu können in der innigsten Gemeinschaft, die
Gott uns gegeben hatte! Ungeduldig wie Kinder reißen wir uns die Kleider vom
Leibe, als hätten wir nicht zwei herrliche Nächte lang Zeit füreinander.
„Gott ist Liebe, in der liebenden Begegnung zweier Menschen ereignet sich
Gott.“ habe ich gelesen. Wir fühlen das schon lange. Wenn du Liebe gibst,
bist du überirdisch schön, strahlt göttlicher Schein aus dir.
Du schreibst geheimnisvoll eine Postkarte. Als ich wissen will, an wen, sagst du
schelmisch: „An meinen Freund.“ Für einen Moment bin ich irritiert, aber
dann denke ich daran, wie wunderbar du mir eben noch deine Liebe bewiesen hast
und weiß, dass sie du einen Scherz vor hast.
Zwei Tage später habe ich die Karte im Kasten:
Wilsede, den 16. 11. 57
Lieber Ernst-Günther!
Von einem schönen Wochenende in der Lüneburger Heide, das ich mit meinem
Verlobten verbracht habe, grüßt Dich herzlich Deine Dich vergessende Karin.
Denkst Du noch manchmal an mich? Ich würde mich freuen, wenn wir uns mal wieder
sehen würden. Mit tausend Küssen unter Tränen an Dich gedenkend grüßt Dich
Karin
Ich antworte sofort, auch auf einer Postkarte:
Hamburg, den 18. 11. 57
Treulose!
Vielen Dank für Deine Karte, ich hoffe, Du hast Dich gut amüsiert mit Deinem
Verlobten. Ja, ich denke immer noch an Dich. Komm mir nur unter die Finger, dann
werden meine Lippen Dir schon beweisen, wer der bessere Liebhaber ist.
Übrigens habe ich auch ein wunderschönes Wochenende mit meiner Braut in der
Heide verbracht. Hab Dank, Geliebte! Ich freue mich auf Mittwoch Abend, wenn ich
Dich von der Firma abhole. Bis dahin viele herzliche Küsse, Dein Ernst-Günther
Zu Weihnachten besorgt jeder liebevoll kleine Geschenke für den anderen und wir kaufen gemeinsam etwas für Tante Friedel, bei der wir den Heiligen Abend feien. Am ersten Feiertag lädt sie uns zum Essen ein. Auch die Silvesternacht verbringen wir bei ihr. Als wir uns beim Glockenklang zum Neuen Jahr küssen, wissen wir, dass dieses Jahr 1958 uns die Ehe und eine viel vollkommenere Gemeinschaft bringen wird, als wir sie bisher haben konnten.
1958
Am Ostertag ist strahlender Sonnenschein. Du trägst ein duftiges Brautkleid mit offenem Schleier und Blütenkranz, in dem du bezaubernd aussiehst, ich habe mir zur Feier des Tages einen dunklen Anzug geleistet. Mit dem alten Ordenslied „Christ ist erstanden“ geleitet uns der Pfarrer in die Christuskirche in Othmarschen. Als Trauspruch haben wir Salomons Liebesverse aus dem Hohelied gewählt:
Denn
Liebe ist stark wie der Tod und ihr Eifer ist fest wie die Hölle. Ihre Glut ist feurig und eine Flamme des Herrn, dass auch viele Wasser nicht mögen die Liebe auslöschen noch die Ströme sie ertränken. Wenn einer alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte, so gölte es alles nichts. |
Zur Hochzeitsreise fahren wir in eine Försterei in der Lüneburger Heide und
streifen durch die aufblühende Landschaft, es ist eine wunderbar erholsame
Woche. Jetzt können wir unsere Gemeinschaft mit allen Sinnen genießen. Am
letzten Abend meinst du, deine fruchtbaren Tage könnten beginnen. Das reizt
mich nur noch mehr, dich zu lieben. Als es dann nach langem zärtlichen Spiel
aus mir in dich hinein strömt, ist mir ganz feierlich zumute. Dank der uns von
Gott verliehenen Schöpfungskraft schenken wir vielleicht jetzt gerade einem
neuen, einzigartigen Menschen das Leben.
Einige Wochen später kommst du bedrückt nach Hause, du bist wirklich schwanger
geworden und fürchtest die unbekannten Strapazen der Schwangerschaft und der
Geburt. In mir wallt dagegen eine unbändige Freude auf. Ich nehme dich in die
Arme und kann gar nicht wieder aufhören, dich zu küssen. Ich verspreche dir,
alles zu tun, was mir möglich sei, um dir diese Zeit zu erleichtern. Da passt
es gar nicht, dass ich mich für ein Führerlager der CP anmelde. Als ich dir
davon berichtet, sagst du glasklar, dass du dir deine Ehe so nicht vorgestellt
hast. Noch nie habe ich dich so empört aber auch entschieden erlebt. Ich
erkenne, dass du Recht hast. Mein Beruf nimmt meine Zeit so sehr in Anspruch,
dass ich dich nicht noch zusätzlich mit Pfadfinderarbeit vernachlässigen darf,
besonders in deinem jetzigen Zustand. Wir einigen uns, dass ich das Lager
mitmache, aber danach nur kleine Aufgaben übernehme. Zum Abschied sagst du:
„Mach’s gut, mein Lieber, ich wünsche dir viel Freude“. Da sehe ich, dass
sie du mir diese Reise nicht mehr übel nimmst.
Am 30. Juli, unserem ersten Jahrestag, bin ich wieder zu Hause. Nachdem wir das
Wiedersehen mit allen Sinnen genossen haben, sage ich dir, dass ich im Lager
gemerkt habe, wie wenig mir die Pfadfinderei gegenüber der Gemeinschaft mit dir
noch bedeutet.
Doch das Zimmer bereitet uns Kopfschmerzen. In Poppenbüttel bekommen wir zum 1.
Oktober eine Einzimmerwohnung mit Küche, Bad und Veranda. Den Baukostenzuschuss
gibt die HEW als Darlehen. Meine alten Möbel kommen aus Berlin, einiges von dir
aus dem Harz. Dazu kaufen wir eine Schlafcouch. Die Vorhänge nähst du, einige
Hausgeräte sind unter den Hochzeitsgeschenken.
Weihnachten feiern wir in der eigenen Wohnung. Du hast Schwangerschaftsurlaub
und kannst das Fest in Ruhe vorbereiten. Diesmal ist Tante Friedel bei uns zu
Besuch und am 1. Feiertag lädt sie uns nach dem Gottesdienst in der schönen
alten Bergstedter Kirche zum Essen ein.
1959
Freitag, den 2. Januar habe ich frei genommen und das ist
gut so, denn nachmittags setzen bei dir, ein paar Tage zu früh, die Wehen ein. Früh am Morgen rufe ich die Klinik an und erfahre, dass du uns um 2 Uhr
einen Sohn geboren hast. Mit einem großen Blumenstrauß besuche ich dich und
kann durch eine Glasscheibe unser kleines Wunder anschauen.
Du wirst immer sicherer als Mutter und Hausfrau. Abends genießen wir den Frühling
bei Spaziergängen mit Andreas im Kinderwagen durch das Alstertal. Einmal
schaust du mich dabei an und fragst: „Bist du eigentlich bei mir oder noch bei
deinen Relais?“ Ich erschrecke und entschuldige mich: Vor kurzem habe ich
meine erste selbstständige Aufgabe bekommen, die Entwicklung einer
automatischen Umschalteinrichtung für den Eigenbedarf eines Kraftwerks. Nicht
nur, weil mein Gehalt gestiegen ist, setze ich meine ganze Leistung dafür ein,
sondern weil ich es gewohnt bin, meine Arbeit möglichst gut zu machen. So gehen
meine Gedanken auch nach der Arbeitszeit immer wieder zu den notwendigen
Schaltabläufen. Deine Frage macht mir den Zwiespalt klar, in dem sich jeder
engagiert arbeitende Ehemann befindet: Auf der einen Seite die Frau, die mit
Recht Zuwendung und Aufmerksamkeit fordert, auf der anderen die interessante
Beschäftigung (so etwas ist ja ein großes Glück) mit der Möglichkeit, sich
zu profilieren, aufzusteigen und der Frau ein besseres Leben bieten zu können.
Dann kann Mann aber nicht zum Feierabend die Gedanken an die Arbeit völlig
abschalten. Ich schildere dir mein Problem und wir sprechen offen darüber. Du
merkst, dass ich dich auf keinen Fall vernachlässigen will, und ich sehe ein,
dass ich meine Gedanken zumindest während der wenigen Stunden zügeln muss, in
denen ich mit dir zusammen bin.
Einige Wochen nach unserem zweiten Jahrestag, den wir wieder gebührend
feierten, bemerkst du, dass wir wohl unser zweites Kind gezeugt hatten. Diesmal
freust du dich von Anfang an darüber und erlebst die neue Schwangerschaft ganz
anders als die erste: Du weißt, was dich erwartet und kannst dich trotz des
Haushaltes mehr schonen und die Zeit besser einteilen.
1960
Am 4. April klagst du spät abends über kurzzyklische
Schmerzen, das sind Wehen! Obwohl es zwei Wochen zu früh ist, treibe ich dich
aus dem Bett und rufe eine Taxe. Diesmal warte ich auf der Entbindungsstation. Zwanzig Minuten nach
der Ankunft erblickt unsere Tochter das Licht der Welt. Ganz kurz darf ich dich
sehen und küssen. Und auch die Tochter sehe ich durch die Scheibe. „Mein
Schwesterchen heißt Kyria. Ich freue mich sehr, meine Eltern auch“ steht auf
der Geburtsanzeige.
Mit dem neuen Familienmitglied passt es gut, dass mein Gehalt auf 827,- DM erhöht
wird. „Auf Grund Ihrer Leistungen“, steht im Schreiben, das ich dir stolz
zeige, wobei ich dich an das Gespräch an der Alster erinnere. Die Arbeit nimmt
mich immer mehr in Anspruch. Ich plane die Schutzeinrichtungen für das neue
Kraftwerk und eine Umspannstation. Die Funktionen werden in einer Reihe von
Versuchen geprüft, die ich zu überwachen habe. Doch ich will wieder für
Menschen verantwortlich sein. Für das neue Kraftwerk wird der Leiter des
Elektrobetriebes gesucht und wie bei den HEW üblich, innerbetrieblich
ausgeschrieben. Nach Rücksprache mit dir und Herrn Abel bewerbe ich mich dafür.
1961
Als ich am 6. April nach Hause komme, steht ein Blumenstrauß
auf dem Tisch. „Welch Verehrer hat dir denn die geschenkt?“, frage ich.
„Die habe ich mir zu unserem Hochzeitstag geschenkt“, ist deine Antwort,
wobei du schelmisch lächelst. Ich habe nie wieder den Hochzeitstag vergessen!
Ein anderer Ingenieur bekommt die Stelle im Kraftwerk, doch Herr Abel vermittelt
mich als Betriebsingenieur in den Netzbezirk Mitte. Für solche Stellen gibt es
Werkwohnungen. Im Frühjahr ziehen wir nach Rahlstedt. Zweieinhalb Zimmer mit
Wohndiele, Küche, Bad und Terrasse sind jetzt unser Reich.
Ich merke schnell, dass die neue Stelle menschlich delikat ist. Neun Meister für
Leitstelle, Umspannstationen und mobilen Schaltdienst unterstanden bisher direkt
dem Bezirksleiter, doch jetzt wird eine neue Führungsebene dazwischen
eingezogen, die ich für den Hochspannungsbereich einnehmen soll. Ich muss als
junger Ingenieur den alten erfahrenen Meistern einen Teil ihrer bisher großen
Selbstständigkeit abnehmen, was manche gar nicht gerne sehen. Um möglichst
schnell in die neue Aufgabe hinein zu wachsen, begleite ich die Schaltmeister so
oft wie möglich und lasse mir erklären, was sie tun und warum. In der
Leitstelle beobachte ich die Schaltungen und besuche häufig die besetzten
Umspannstationen. Vor allem aber bin ich bei Störungen an der Suche nach der Störungsstelle
und den Schaltungen zur Wiederversorgung interessiert, über die ich Berichte
schreiben muss. So klingelt nachts öfter das Telefon und ich fahre zur Störungsstelle.
Das ist dir nicht so recht, aber du siehst ein, dass wir unsere neue Wohnung nur
diesem Job verdanken. Ich bin dankbar, dass du die Aufgaben des Haushalts und
der Kindererziehung weitgehend übernimmst.
1962
Am 17. Februar werde ich nachts um 1 Uhr angerufen. Was ich
zu hören bekomme, lässt mich schlagartig wach werden: In mehreren
Umspannstationen lösen laufend Mittelspannungskabel aus. Ich fahre zur
Leitstelle, informiere mich und fahre dann weiter in die Innenstadt, wo die
meisten Störungen gemeldet worden sind. Dort traue ich meinen Augen nicht: Die
breite Ostwest-Straße steht 40 cm tief unter Wasser. Gerade kommt ein
Schaltmeister in seinem Wagen mit schäumender Bugwelle die Straße hoch. Wir
stellen fest, dass viele Netzstationen in Kellern voll Wasser gelaufen sind, was
zu Kurzschlüssen und Auslösungen geführt hat. Eine Sturmflut drückt die Elbe
in die Stadt. Wir trennen die tiefer gelegenen Stationen aus dem Netz heraus
versorgen den Rest wieder. – Am 18. 2. falle ich nach 35 Stunden wie tot ins
Bett. Zwei Wochen danach schreibe ich einen ausführlichen Bericht, in dem ich
auch die erkannten Schwachstellen freimütig nenne. Wie ich später erfahre,
wird gerade deshalb der Bericht positiv aufgenommen.
Im Herbst musst du für die sehr häufige Freude aneinander büßen, denn du
hast Fehlgeburt im dritten
Monat . Das zeigt uns, dass Verhütung nötig ist. Der Arzt
empfiehlt ein Diaphragma, das unser Vergnügen in keiner Weise stört.
Als Anerkennung für meine Einsatzbereitschaft bekomme ich zum Jahresende eine
Gehaltserhöhung, die wir Sonntags bei einem guten Essen zusammen mit Tante
Friedel feiern. Sie spielt zuweilen Babysitter bei den Kindern, so dass wir ins
Theater oder die Oper gehen können. Einmal in der Woche gehen wir abends zur
Elternschule in der Nähe, wo wir viel für unsere Erziehungsversuche lernen.
1963
Deine Fehlgeburt lässt uns darüber nachdenken, ob wir es
bei zwei Kindern belassen wollen. Ich hätte gerne noch ein drittes, du fürchtest
die Strapazen einer weiteren Schwangerschaft. Wohl nur meinetwegen stimmst du
zu, ein Kind zu adoptieren. Nach intensiver Prüfung durch das Jugendamt
bekommen wir ein Angebot für den am 11. März geborenen und von seiner Mutter
zur Adoption frei gegebenen Stephan. Da wir dieses Jahr noch in Urlaub fahren
wollen, einigen wir uns mit dem Jugendamt, den Jungen erst zum 1. 8. zu übernehmen.
Niemand sagt uns, dass es ein großer Fehler ist, das Baby so lange im Heim zu
lassen.
In den Ferien gehen wir zum ersten Mal zelten. Nach einem Besuch bei Mutter
Teuffel geht es ins Elsass an den Lac du Longemer. Wir bauen unsere Zelte direkt
ans Ufer des Sees. Neben faulenzen, Essen kochen und Fahrten in die Umgebung
willst du jetzt schwimmen lernen. Mit einem aufblasbaren Ring wagst du dich in
meiner Begleitung ins Tiefe. Ich blase jeden Tag weniger Luft in den
Ring, bis er leer um deine Brust hängt. Mitten auf dem See wir dir das plötzlich
bewusst. „Was soll ich machen, mein Ring ist leer?“ fragst du ängstlich.
„Schwimm einfach, du kannst es“, antworte ich. Von nun an schwimmst du frei.
Zu Hause holen wir Stephan ab und merken schnell, wie sehr er in den 4½ Monaten
im Heim vernachlässigt worden ist. Wir ahnen, dass wir sehr viel Liebe und
Zuwendung brauchen werden, den neuen Sohn auf diesen Stand zu bringen. Doch wir
haben uns für ihn entschieden, und sein Zustand zeigt, dass er dringend
Menschen braucht, die ihm Liebe und Zuwendung geben. So erneuern wir unseren
Entschluss, ihn uneingeschränkt als Kind anzunehmen. Zwei Monate später wird dieser Entschluss auf die erste Probe
gestellt. Um deinen Geburtstag herum merkst du, dass du erneut schwanger bist.
Doch es gibt keinen Zweifel für dich, auch dieses Kind zu bekommen. „Ich habe
Verständnis für Frauen, die Kinder abtreiben“, sagst du, „aber ich werde
das niemals tun.“
1964
Im Mai stürzt du eine Treppe hinunter und kurz darauf,
vier Wochen zu früh, setzen die Wehen ein. Diesmal kann ich dich im eigenen
Wagen nach Barmbek fahren, wo du am frühen Morgen des 20. Mai Barbara zur Welt
bringst. Als ich euch abhole, staune ich, wie sehr sich die fehlenden vier
Wochen in der Größe der Tochter bemerkbar machen. Zu unserer Freude beginnt
Stephan allmählich, sich normal zu entwickeln. Ich hatte befürchtet, dass du
ihm nicht mehr so viel Zuwendung geben könntest, jetzt wo Barbara da ist. Aber
deine Güte ist so groß, dass sie problemlos für vier Kinder reicht. Doch du
klagst, dass dir der emotionale Zugang zu Stephan fehlt: „Alles, was ich bei
den anderen im Gefühl habe, muss ich bei ihm über den Verstand machen.
Manchmal muss ich erst überlegen, wie ich bei den eigenen Kindern
reagieren würde.“ Als die Anti-Baby-Pille auf den Markt kommt, können wir
uns endlich lieben, so oft wir wollen, ohne eine Schwangerschaft befürchten zu
müssen.
1965
Im Frühjahr fragt Herr Abel mich, ob ich mir zutrauen würde,
den flächenmäßig größten Netzbezirk Bergedorf unter die Lupe zu nehmen, der
bei geringem Energieabsatz ebenso viel Personal hat wie die anderen. Bei Bewährung
sei in zwei Jahren die Nachfolge des Bezirksleiters denkbar. Ich erbitte
Bedenkzeit. Diese Aufgabe erfordert mehr als Personalführung, die mir in den
letzten Jahren recht gut gelungen ist. Ich habe erstaunt festgestellt, dass
Mitarbeiter-Führung und Kindererziehung sehr ähnlich sind, wenn man den
anderen als Persönlichkeit anerkennt. Doch hier muss ich wirtschaftlich denken.
Schließlich sage ich zu, weil ich in zwei Jahren Abteilungsleiter werden kann.
1966
Anfang des Jahres hat mein Chef eine neue Überraschung für
mich: Er denkt über eine zentrale Netzüberwachungs- und Schaltwarte für ganz
Hamburg nach. Weil er gehört hat, dass in England die Technik schon weiter ist,
plant er im Mai einen Besuch dort und ich soll ihn begleiten. Bedingung ist,
dass ich einigermaßen fließend englisch spreche. Zum Reisetermin bin ich so weit fit, dass ich mich
gut verständigen kann.
In Hamburg bekomme ich zusätzlich die Aufgabe, alle Artikel in
Fachzeitschriften zum Thema „zentrale Netzführung“ zu sammeln, wo nötig zu
übersetzen und nach oben zu geben. Von nun an gibt es kaum jemanden bei der
HEW, der besser informiert ist. Ich habe ein Ziel: Falls je eine solche Warte
bei uns gebaut wird, will ich sie maßgeblich mit formen und, wenn möglich,
leiten. Du siehst diese Idee mit gesunder Skepsis, doch sagst du: „Wenn dich
das reizt, dann arbeite ruhig darauf hin. Was ich tun kann, um dich dabei zu
unterstützen, das will ich gerne tun.“ Das ist ein großes Geschenk.
Herr Abel hat noch eine weitere Aufgabe für mich: ein Trainingssystem für das
Schaltpersonal in Leitstellen zu entwickeln, bei dem nach Art der gerade
aufkommenden Unternehmensplanspiele mit simulierten Schaltungen und der
notwendigen Kommunikation normale Betriebsabläufe und Störungen geübt werden
können.
In Bergedorf wird mir klar, dass die große Fläche überwiegend aus Äckern
besteht, und ich kann nachweisen, dass
Bergedorf von zwei Meistern betreut werden kann, anstatt wie bisher von drei
Ingenieuren, fünf Meistern und viel Personal. Doch nun muss ich überlegen, wie ich mir meine
berufliche Zukunft vorstelle: Abteilungsleiter in einem Minibezirk ohne jede
technische Herausforderung – oder Planer und später vielleicht Betreiber
einer zukunftsweisenden Technik? Mit meinen 35 Jahren fühle ich mich für die
erste Variante zu jung, wenn sie auch schnell einen Titel und mehr Geld bringen
würde. Du kennst mich genug, um meine Tendenz zu der interessanten Lösung zu
unterstützen, obwohl das wohl auch für dich ein unruhigeres Leben bedeutet.
Also gebe ich den Bericht ab, und der Bezirk Bergedorf wird nach der
Pensionierung des Bezirksleiters als Meisterbereich nach Harburg angegliedert.
1967
Unsere Wohnung wird uns zu eng und wir wollen etwas Eigenes
haben. Wir informieren uns über Geldquellen und stellen fest, dass wir
erhebliche Kredite bekommen können. So kaufen wir ein Grundstück in Bergedorf
und bestellen ein OKAL-Fertighaus aus Holzelementen, bei dem wir den Grundriss
verändern, um eine größere Essecke zu bekommen. Die vielen Probleme, die wir
während des Baues lösen müssen, könnten ein eigenes Buch füllen. Doch ein
Ereignis klärst du ganz alleine. Ich bin in einer Schulung, als schwerer Sturm
und Regen angekündigt wird. Die Decke auf unserem Kellergeschoss ist gerade
geschüttet worden und darf kaum nass werden. Du fährst mit den Kindern nach
Bergedorf, organisierst große Planen und deckst während des Regensturmes die
140 m2 ab, so dass das Wasser
nichts anrichten kann. Ich hatte nichts von dem Sturm mit bekommen, aber als du
mir am Abend deine Heldentat berichtest, falle ich dir um den Hals. Was wäre
unser gemeinsames Wohl ohne dich, dein Mitdenken, deine ständige
Einsatzbereitschaft!
Mitte November wird das Haus geliefert und ist innerhalb einer Woche
bezugsfertig. Am 28. November ziehen wir ein und die Tage vergehen mit Auspacken
und Einrichten wie im Fluge. .
1968
Weil wir die Diele großzügig gestalten wollen, bauen wir
an einem Wochenende mit den beiden Großen aus Kiefernbrettern und Moniereisen
die Treppe vom Keller bis zum Dachgeschoss selber. Um die Stangen zu versteifen,
schweiße ich ein Netzmuster davor. „In der Mitte müsste jetzt eine Spinne
sitzen“, meinst du und ich forme sie nachts um 2 Uhr aus Blech mit
angeschweißten Beinen.
Im Herbst wächst schon Rasen im Garten und ich habe Platten gelegt. Du pflanzt
viele kleine Büsche und hast jetzt einen Bereich, der dir viel Freude macht.
1969
Am 1. März werde ich zum Unterteilungsleiter der Netzwarte
und Projektleiter für die geplante Zentrale Warte ernannt. Ich bin meinem Ziel
ein ganzes Stück näher gekommen. Am Abend lade ich dich zum Essen ein,
berichte dir von meiner Ernennung und danke dir von ganzem Herzen für die
wunderbare Gemeinschaft mit dir. Ohne deine stetige Hilfe, ohne dass du mir im
Haushalt so vollkommen den Rücken frei hältst und ohne das unverbrüchliche
Bewusstsein deiner Liebe hätte ich diese erste wesentliche Stufe in meiner
Karriere niemals geschafft. Dann klingen unsere Gläser aneinander und du
gratulierst mir herzlich. Ich merke auch dir die Freude an und küsse dich vor
allen Gästen.
Ein Kollege erzählt, dass sie regelmäßig den FKK-Zeltplatz Hooksiel bei
Wilhelmshaven besuchen. Wir überlegen, ob wir „so etwas“ mit machen wollen.
Schließlich siegt die Vernunft. Warum sollen wir nicht so schwimmen, wie Gott
uns geschaffen hat?
Wir haben herrliche Wochen in der Ungezwungenheit dieses Platzes direkt an der
See, machen ausgedehnte Wattwanderungen und besuchen die Orte in der Umgebung.
Die Kinder genießen die Freiheit mit anderen Kindern in der Natur und kommen
nur zum Essen und zum Schlafen ins Zelt.
1970 Literaturverzeichnis Seitenanfang
Wir beginnen, das Dachgeschoss des Hauses auszubauen. Mit intensiver Hilfe von
Andreas und Kyria werden die Deckenbalken verkleidet, Zwischenwände mit Türen
gesetzt, ein Fußboden gelegt und das Ganze tapeziert. Aus einem alten HEW-Bürohaus
erwerben wir billig Möbel für die Kinderzimmer.
Die analytische Denkweise der Programmierer lehrt mich,
dass man ein komplexes Problem nur lösen kann, wenn man es in überschaubare
Einzelprobleme aufdröselt. Für den Rechnerbetrieb hole ich mir einen sehr
kritischen Planungsingenieur. Ich hatte schon vor zwanzig Jahren kritische
Mitarbeiter nicht gefürchtet, als ich den ähnlich verrufenen Nuddle zu mir
holte. Und wie damals gewinne ich einen hervorragenden Mann, der später mein
Nachfolger werden sollte.
Nach einem Jahr ist das Lastenheft mit einer ganzen Menge neuer Anforderungen
fertig, die die Arbeit der Wartenmitarbeiter erleichtern sollen. Die Idee, die
ich vor vier Jahren hatte, Leitungen stets mit beiden Seiten darzustellen, ist
ein wesentlicher Teil der Anforderungen.
1971
Im Herbst bauen wir den Rest des Dachgeschosses aus. Vier Zimmer haben die Kinder jetzt, ein kleines Bad und einen großen Vorraum zum Spielen. Als ich mich zu einem Französischkurs anmelde, sagst du: „Ich komme mit, das interessiert mich auch.“ Ich freue mich sehr. Zum Jahresende fahre ich zu einem Computer-Kurs nach Karlsruhe.
1972
Karlsruhe, der 31. 1. 72 Geliebte,
W
Ich will Dir ein bisschen von Strasbourg erzählen. Ich ging zunächst ins Münster,
wo ich feststellte, dass der Unterschied zu Köln hauptsächlich durch den
Engelspfeiler im rechten Seitenschiff gebildet wird, der deutlich von den
massiven Tragepfeilern abweicht. ... Als ich schön durchgefroren war, trank ich
heißen Tee, und da eine Patisserie zu dem Salon gehörte, bekam ich auch ein Stück
Kuchen. Unser gelerntes Französisch anzuwenden getraute ich mich noch nicht.
Alle sprachen leidlich Elsässer Deutsch. Ich hatte das Gefühl, dass auch ihr
Französisch sich breit elsässisch anhört.
Gestern war ich im Albtal, es hat
mir gut gefallen, doch die Beine taten mir von der Wanderung durch Strasbourg
weh. ...
Vielen Dank auch noch für den Brief. Nun lass Dich herzlich küssen,
als Vorschuss sozusagen, von Deinem Ernst-Günther
Danach beginnt die Systemanalyse. In acht Arbeitskreisen
werden die Themen diskutiert und von den Siemens-Mitarbeitern geeignete Lösungswege
beschrieben. Ich nehme an allen Arbeitskreisen teil, um die Ergebnisse zu
koordinieren.
Herr Abel möchte für das mobile Schaltpersonal eine Arbeitsvorbereitung in das
Leitsystem integrieren. Als der Arbeitskreis erkennt, dass dies das System zu
sehr belasten würde, traut sich niemand, dem Chef die Idee zu nehmen. Ich bin
als Projektleiter für ein funktionsfähiges Leitsystem verantwortlich und will
später vernünftig damit arbeiten können, also muss ich jetzt handeln. In
einer Besprechung schildere ich die Bedenken der Fachleute und habe mich nicht
getäuscht. „Schade“, sagt Herr Abel, „aber Sie haben Recht, die korrekte
Netzführung ist am wichtigsten. Vielen Dank.“ Die Abteilungsleiter starren
mich an wie einen Geist.
Unsere Tochter bekommt ihre erste Regel, Du hast sie natürlich darauf
vorbereitet. Ich freue mich und kaufe ihr einen hübschen kleinen Anhänger.
„Als Anerkennung, dass du jetzt eine Frau bist“, sage ich zu ihr.
1973
Ein Netzbezirksleiter ist gestorben und Herr Abel eröffnet
mir, dass ich als Nachfolger vorgesehen sei, falls er für mich Ersatz fände.
Wieder muss ich mich entscheiden und vergleiche die beiden Varianten in einer
Analyse. Die Arbeit an der Netzwarte hat Vorteile in der Zukunft: interessante Tätigkeit,
Mitbestimmen von Entwicklungen, einen Namen machen. Die Bezirksleitung hat
finanzielle Vorteile in der Gegenwart, die sind aber so gering, dass ich nicht
enttäuscht bin, als mein Chef mir nach ein paar Wochen mitteilt, dass keiner
der Kandidaten meinen Job haben will. Alle halten das für einen Schleudersitz.
Mir wird diese Entwicklung durch eine ansehnliche Gehaltserhöhung versüßt.
Nach Abschluss der Systemanalyse beginnt die Programmierung. Zu einer ersten
Besprechung in den Herbstferien kommst du mit den Kindern mit nach Erlangen. Während
ihr euch Nürnberg anseht, plane ich mit Siemens die Arbeit für die nächsten
Jahre. Anschließend fahren wir zur Klause im Bayerischen Wald, in der ich vor
zwanzig Jahren öfter gewesen bin. Die Besitzerfamilie wohnt nicht mehr dort,
sondern in Neureichenau. Wir vereinbaren, dass wir im nächsten Sommer in der
Klause unterkommen könnten. Danach beginnen meine drei Erlanger Jahre.
1974
Ich habe ein möbliertes Zimmer in einem Einfamilienhaus
und komme meist Donnerstag oder Freitag spät nach Hause.
Manchmal brauchen wir etwas Zeit, um wieder miteinander vertraut zu werden. Dann
allerdings geben wir uns alles, was wir an Liebe füreinander haben. Es ist
immer wieder eine Offenbarung für mich, wie auch du dabei aus dir heraus gehst
und mir mit deinem ganzen wunderbaren Körper deine Liebe beweist.
Die meisten Probleme im Haus klärst du alleine. Dringende Fragen besprechen wir
telefonisch. Ich freue mich, wie selbstständig du geworden bist.
Erlangen, den 21. 5. 74
W
Geliebte, als ich am Sonntag Abend auf der Autobahn nach Erlangen fuhr, hatte
ich große Sehnsucht nach Dir und wäre lieber bei Dir geblieben. Ich weiß
nicht, ob wir durch den Besuch von Peters Familie am Wochenende zu wenig Zeit füreinander
hatten, oder ob es einfach nötig ist, mal wieder länger als ein Wochenende
zusammen zu sein. ... Weißt Du, ich habe bei meinen Spaziergängen und
Radfahrten durch die Wälder hier darüber nachgedacht, wodurch eigentlich der
sichtbare Erfolg im Berufsleben eines Mannes bestimmt wird. Und ich glaube, ein
ganz wesentlicher Faktor ist die Ehefrau. Wenn er ihrer Liebe sicher ist, wenn
er weiß, dass sie den Haushalt mit seinen vielfältigen Problemen meistert,
wenn die Gedanken, die auch während der Arbeit ab und zu bei ihr sind, Gedanken
der Liebe und Freude sind, dann lässt sich daraus eine Kraft ziehen, die die
Probleme im Beruf leichter lösbar macht. Ich habe das schon ein paar Mal
angedeutet, als ich sichtbare Erfolge hatte, aber in dem ganzen Umfang ist mir
dieser Zusammenhang erst jetzt klar geworden, als ich Muße hatte, einmal darüber
nachzudenken. Und deshalb lass mich Dir jetzt ganz klar sagen: Ich bin dankbar,
dass ich Dich habe. Ich liebe Dich über alles. Ohne Dich, ja ganz speziell ohne
Dich wäre mein Leben nicht halb so schön, ach was, nicht ein Zehntel so schön.
Dass ich manchmal launisch bin, dass ich manchmal versuche, Dich in diesem oder
jenem Punkte zu ändern, tut dem Gesagten keinen Abbruch. Teilweise sind es
wirklich Augenblickslaunen, teilweise geschieht es aus der ehrlichen Meinung,
dass es anders für Dich besser wäre. Aber Du musst das entscheiden, denn Du führst
Dein Leben. Und ich liebe Dich, so wie Du bist, denn Du bist ein wesentlicher
Teil meines Lebens.
In Liebe viele Küsse, Dein Ernst-Günther
Im Sommer machen wir zum ersten Mal Ferien in der Klause im Bayerischen Wald. Du
holst mich mit den Kindern in Erlangen ab. Der nicht mehr bewirtschaftete Einödhof
mit großer Wohnküche und einigen Nebenräumen steht auf einer Lichtung mitten
im Wald. Der nächste Ort ist vier Kilometer entfernt. Strom gibt es nicht, das
Wasser kommt aus einer Quelle vors Haus, als Toilette dient der Wald. Die Kinder
sind begeistert, besonders da Franzl uns oft besucht. Brennholz für den Herd
finden wir im Wald. Fünfzig Meter vom Haus entfernt baden wir im Michelbach,
der der Klause den Namen gibt.
An einem Abend sprechen wir mit Andreas und Kyria über Liebe und Sex. Einiges
wissen sie schon aus der Schule oder von Freunden. Wir schildern das Wachsen von
Zuneigung und Liebe, das langsame einander näher Kommen, den Wunsch nach
vollkommener Vereinigung, die Funktion der Geschlechtsorgane, die einzelnen
Phasen des Aktes, die Verhütungsmethoden, die Prostitution und die Krankheiten.
Da wir davon überzeugt sind, dass Masturbation etwas Natürliches sei, erläutern
wir ihnen auch dieses schöne Spiel. Doch der wesentliche Tenor ist die Freude
an der Gemeinsamkeit der Liebe: „Überschreitet mit einem Menschen erst dann
die letzte Grenze, wenn ihr ihn so sehr liebt, dass ihr euer ganzes Leben mit
ihm verbringen könntet.“ Du bietest Kyria an, ihr die Pille zu beschaffen,
wenn sie sie brauche.
1975
In Erlangen ziehe ich in eine kleine Wohnung mit eigenem Bad und Toilette, einem
Doppelbett und einer Kochnische und habe jetzt ein abgeschlossenes eigenes
Reich.
Nach acht Jahren renovieren wir unser Haus. Ich kann mich nur an den
Wochenenden beteiligen. Meist fangen wir Samstag früh an, und ich lege die
Arbeit Sonntag Abend aus der Hand, bevor du mich zur Bahn fährst. Den Sommer
verbringen wir wieder in der Klause.
Zu deinem 40. Geburtstag am 24. 10. schreibe ich dir aus
vollem Herzen:
Meine Karin,
ich liebe Dich,
ich liebe Dich seit fast 20 Jahren,
ich werde nie aufhören, Dich zu lieben.
Du bist mein Leben,
ohne Dich wäre es nichts,
ich liebe Dich,
Dein Ernst-Günther
1976
Zwischen Kyria und dem
ein Jahr jüngeren Mathias, Rolfs Ältestem, bahnte sich ein zartes Liebesverhältnis
an, das ich mit Freude beobachte.
Etwas später besuchst du mich an einem Freitag in Erlangen. Es wird
fantastisch. Dass du mich alleine in meiner Wohnung besuchst, hat etwas
laszives, und wir landen auch gleich im Bett, das wir nur verlassen, um etwas zu
essen und ein Glas Wein zu trinken. Bis zum Morgen schlafen wir eng umschlungen
beieinander. Samstag fahren wir in die Fränkische Schweiz. In einem Dorfhotel bekommen wir
ein Zimmer mit Himmelbett. Vor und nach dem Essen laufen wir auf dem Idiotenhügel
Ski. Abends gibt es Tanz, den wir sehr genießen. Im Himmelbett kommen wir uns
vor wie ein Königspaar, so glücklich sind wir.
Während der Osterferien kommt Mathias Kroeger für zwei Wochen zu Besuch, und
es ist eine Freude zu sehen, wie Kyria und er sich ganz langsam, auch körperlich,
näher kommen, obwohl der Abstand immer noch groß bleibt. Ostern holen
Mathias’ Eltern ihren Sohn wieder ab. Natürlich sprechen wir über die
beiden, aber uns verschlägt es die Sprache, als Trudi fragt: „Haben sie denn
schon miteinander geschlafen?“. Wir erläutern ihnen, dass die Annäherung
noch genau wie früher in vielen kleinen, nur langsam intensiver werdenden
Schritten geschieht, die ihre Zeit brauchen.
Gleich danach gehen die Primärtests für die Warte los. Tausende von Schaltern,
Meldungen und Messstellen in 65 Umspannstationen müssen ohne
Versorgungsunterbrechung auf die neue Anlage geschaltet und einzeln geprüft
werden.
1977
Am 3. Januar wird Andreas volljährig. Bei einem Glas Sekt
sage ich: „Du hast jetzt das Recht, ganz zu tun, was du willst, und wir haben
mit Freude gesehen, dass du deine Freiheit nie missbraucht hast. Doch wir werden
dir weiterhin gute Ratschläge geben, wenn wir meinen, dass du sie dir nutzen.
Ich habe den Kindern zum 18. Geburtstag den Führerschein versprochen. Nach
einer Prüfung darf ich sie selbst ausbilden und die Prüfungsfahrt mit ihnen
machen. Danach geben wir ihnen bedenkenlos unsere Wagen.
Kyria bittet dich, ihr die Pille zu beschaffen, Wir freuen uns über ihr
Vertrauen. Kurz danach ruft Rolf an, Kyria beantworte Mathias’ Briefe nicht
mehr. Vorsichtig sage ich meiner Tochter, dass man einem Menschen gegenüber,
dem man vertraut war, Verpflichtungen hat. Und wenn man sich von ihm trennen
wolle, müsse man das klar sagen, aber nicht vergessen, dass man sich nahe
gestanden hat.
Zu unserem zwanzigsten Jahrestag schenke ich dir einen Ring mit zwanzig kleinen
Brillanten zum Dank für die wundervolle Zeit miteinander.
1978
Ende Juni bittet mich Herr Abel zu sich nach Hause. Bei
einem Glas Wein eröffnet er mir, dass ich morgen vom Vorstand zum
Abteilungsleiter der neuen Netzwarte ernannt werde. Er freut sich darüber und
gibt mir einige gute Ratschläge mit auf den Weg. Zu Hause falle ich dir um den
Hals. Mit deiner Hilfe bin ich nur fünf Jahre später, aber auf einem viel
interessanteren Weg in den kleinen Kreis der Leitenden Angestellten gelangt.
Zu Weihnachten kaufe ich dir dankbar einen exklusiven Ohrhänger mit einer 2.500
Jahre alten ägyptischen Glasblume.
1979
Im Frühjahr fahren wir alle in die Schweiz und tummeln uns
bis 3.000 Meter bei herrlichem Schnee und gutem Wetter. Du machst einen Skikurs
und fährst fortan erheblich besser als ich.
Mein Vater ist schwer krank. Die Schwestern bitten mich, auch Erika zu rufen. Es
ist, als ob er Abschied nehmen will, in der Nacht nach ihrer Ankunft stirbt er.
Da er zu keiner Kirche gehört, ist die Feier nur weltlich, doch Bringfried
segnet die Urne ein. Aus dem Anteil des Erbes kann ich die letzten Schulden für
das Haus abzahlen.
Tante Friedels Geist verwirrt sich. Weil sie nicht mehr alleine verreisen kann,
nehmen wir sie mit in den Bayerischen Wald. Die drei Älteren haben eigene
Urlaubsinteressen, so kommt nur noch Barbara mit uns. Die Tante wird in der
Nachbarschaft untergebracht, und tagsüber holen wir sie in die Klause. Mit
Barbara unternehmen wir einen mehrtägigen Ausflug nach Budapest. Abends auf der
Margaretheninsel wird sie ständig zum Tanzen aufgefordert. Mit ihren langen
blonden Haaren stellt sie einen Magneten dar. Wir bemühen uns, sie nicht aus
den Augen zu verlieren.
Da die interessierten Besuche von anderen Unternehmen in der Netzwarte überhand
nehmen, arbeite ich für die CONSULECTRA, die Beratungstochter der HEW, ein
Seminar aus, das vielfach wiederholt werden muss. Daraus entwickelt sich eine
Reihe von Beratungsaufträgen .
Irgendwann in diesen Jahren:
Die meisten Begegnungen mit dir sind zur Gewohnheit
geworden und eine immer stärker werdende Stimme in mir sagt: „Das kann doch
nicht alles gewesen sein!“ Es ist wohl eine Neugier in mir, wie eine andere
Frau in der tiefsten Begegnung reagiert, und auch der Wunsch nach Neuem,
Interessanterem in dieser Begegnung, das mit dir nicht mehr aufkommen will.
Um mich vor mir zu rechtfertigen, bastele ich mir eine Theorie zusammen, dass
ein Mann ruhig noch eine andere Frau lieben kann, wenn er nur die eigene
weiterhin am meisten liebt. Dafür setze ich mir klare Grenzen: Ich will dich
stets mehr lieben als irgend jemanden sonst und dich nie verlassen.
Schon lange fasziniert mich eine attraktive und warmherzige Frau, die ich Jutta
nenne. Sie lebt nicht in Hamburg und ihre Ehe ist nicht glücklich. Ich besuche
sie ein paar Mal und wir kommen uns sehr nahe. Zu ihrer Ehre muss ich sagen,
dass sämtliche Aktivitäten von mir ausgehen, ja dass sie zuerst noch bremst.
Ich mache ihr von vorn herein meine selbst gesetzten Grenzen klar, die sie
akzeptiert.
So erlebe ich nun wunderschöne Stunden mit Jutta und sie genießt unsere
wenigen Begegnungen ebenfalls. Ich bin ihr noch heute dankbar, denn sie hat mein
Leben bereichert. „Ich liebe dich ein großes bisschen“, sage ich zu ihr,
worauf sie antwortet: „Du sollst vor allem deine Frau lieben“, und später:
„Ich kenne keinen Mann, der so tief über die Frauen nachdenkt wie du.“ Wir
schreiben uns lange Briefe, und den Zwiespalt meiner Gefühle zwischen ihr und
der ungebrochenen Liebe zu dir verarbeite ich in einem romantischen Bericht für
sie mit dem Titel „Späte Liebe brennt nicht heiß“.
Deine Liebe zu mir ist wohl größer als meine zu dir, denn allmählich merkst
du, dass etwas mit mir nicht stimmt. Endlich fragst du mich direkt, da gebe ich
dir die „Späte Liebe“, froh, dass das Versteckspiel vorbei ist. Als du sie
gelesen hast, machst du mir keine Vorwürfe, sondern sagst nur traurig ein
einziges Wort: „Warum?“ Aus dem Versuch einer Erklärung werden lange Gespräche,
die über Wochen hinweg viele Abende füllen. Verwirrt schlage ich dir vor, es
doch auch einmal außerhalb unserer Ehe zu versuchen, doch dein ungläubiger
Blick zeigt mir, dass ich dich mit diesem Ansinnen tief beleidige. Wie vor
vielen Jahren füllen sich deine Augen mit Tränen, doch du verwehrst es mir
nicht, sie dir fort zu küssen. „Dafür stelle ich wohl zu hohe Ansprüche“,
sagst du dann nachdenklich und ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment
auffassen darf.
Allmählich begreife ich, dass meine Theorie zwar für mich zutreffen mag, aber
du, obwohl ich dich weiter über alles liebe, dich dabei nicht mehr geliebt fühlst.
Ich erkenne, wie sehr du unter meinem Handeln leidest, sehe, dass du mir nicht
mehr glaubst, ich würde dich nie verlassen. Ich kann und will dich aber nicht
meinetwegen leiden sehen, dafür liebe ich dich viel zu sehr. Das ist für mich
Grund genug, von nun an jede andere Beziehung zu meiden. Doch wie sehr ich dich
verletzt habe, wird mir klar, als ich sehe, wie lange du brauchst, um deine alte
Fröhlichkeit wieder zu gewinnen. Lange gehst du nicht mehr mit mir zum
Abendmahl. Nur ganz allmählich wird aus der tiefen Krise unserer Gemeinschaft
ein wundervoller Neubeginn, so eng und innig, wie schon seit Jahren nicht mehr.
3. Miteinander erleben Seitenanfang Literaturverzeichnis
1980
Das Jahr beginnt mit einem Beratungsauftrag für die
Energieleitstelle der BASF in Ludwigshafen. Jetzt bin ich neben der Leitung der
Netzwarte viel als Berater unterwegs.
Ich fahre mit dir nach England zu einer internationalen Konferenz. Ganz allmählich
glaubst du wieder, dass ich nur dich liebe. Montag bis Donnerstag nehmen Herr
Abel und ich an der Tagung teil, auf der ich meinen Vortrag über die Hamburger
Warte halte. Du erkundest derweil London per Bus. Freitag führst du mich durch
die Stadt.
Zwei Wochen später fahren wir zum ersten Mal ohne Kinder in die Ferien. Nach
jeweils drei Tagen in Amsterdam und Delft bekommen wir in Paris ein schönes
Zimmer mit zwei grands lits. Nach köstlichem Essen in einem kleinen Bistro
kaufe ich dir auf der Pont Neuf rote Rosen. Immer leidenschaftlicher werden
unsere Küsse, bis wir im Zimmer übereinander herfallen. Fünfmal lieben wir
uns in dieser Nacht, nur unterbrochen von Phasen kurzen Schlafes. Als ich einmal
nicht so schnell wieder fähig bin, streichelst du „ihn“ zärtlich mit dem
Mund, bis ich in dich gleiten kann. Das hattest du noch nie getan und ich nehme
es als höchsten Liebesbeweis. Aus unserer tiefsten Krise ist die Liebe wie ein
Phoenix aus der Asche neu geboren worden, und du hast mit deinem Verzeihen den
größten Anteil daran. Jetzt weiß ich, dass wir beide in der vollkommenen
Gemeinschaft angekommen sind.
Später finde ich ein Gedicht von Jalé, das unser Erleben in dieser Nacht
wunderbar klar ausdrückt:
Ich möchte verzaubern,
die ganze Nacht verzaubert sein,
wie unsere Haut eins wird.
Ein Mantel, der unsere Magie umhüllt
bis zum Morgen.
Ich möchte begehren,
bis zum Morgen begehrt sein,
dass wir eins werden.
Ein Ganzes, das unsere Körper aneinander stillt
die ganze Nacht.
Ich möchte Deinen Duft riechen,
deine salzigen Lippen schmecken,
deine Lust sehen,
dein Seufzen hören
und Deine Gänsehaut ertasten.
Lass unsere Seelen einander atmen
die ganze Nacht, bis zum Morgen.
Und wenn wir uns lösen voneinander,
lass uns ein Stück davon
durch den Tag tragen.
Später erreichen wir das Chateau de Lentilly, wo wir von jungen Künstlern in die gestalterischen Grundlagen eingeführt werden. Du modellierst einen Hund, ich male Blumenaquarelle. An einem Nachmittag haben wir keine Lust zu arbeiten. „Komm, lass uns spazieren gehen“, sagst du, und ich streifte mit dir durch die Felder. Auf einer einsamen Blumenwiese küssen wir uns innig, dann versinken wir in den Feldblumen und ineinander, es ist herrlich in der freien Natur, und wir sind glücklich, dass wir einander wieder haben. Im Dorf trinken wir einen großen Poire William. Nach einer Woche fahren wir weiter nach Ludwigshafen, wo ich am nächsten Tag bei der BASF zu tun hatte.
1981
Heute soll das große Abenteuer auf der Ardèche starten. Wir stehen um 7 Uhr auf, wahrscheinlich
sind wir so früh die einzigen. Am Strand schlafen junge Menschen. Wir nehmen
unser Morgenbad ganz leise, um sie nicht zu stören. Als ich die Schlafsäcke
zum Wagen bringe, sehe ich einen jungen Mann aus dem Zelt kommen und zum Fluss
schauen. Als er dich erblickt, wie du völlig nackend, so wie du vom Baden
gekommen bist, das Zelt abbaust, stockt ihm der Atem und er kann den Blick nicht
von deiner wunderschönen schlanken Figur lassen. Verstehst du, dass ich mich
freue, dein Mann zu sein?
Nach dem Frühstück bekommen wir unser Boot. Wir sind im Badezeug und haben
leichte Hemden über gezogen. Kleidung für die Rückfahrt, Verpflegung, Getränke
und der Fotoapparat sind in einer verschraubten Tonne deponiert, die wir im Boot
fest binden. ... Die erste Stromschnelle ist leicht, doch vor der zweiten,
„Les trois eaux“ mit Namen, werden wir herum gewirbelt, ehe wir wissen, was
uns geschieht. Querab treiben wir auf die Stufe zu. Wir sehen uns schon kopfüber
im Wasser liegen, da hat das Boot plötzlich wieder die Fahrtrichtung und wird
mit einem starken Schwall durch die Lücke zwischen den Felsen hindurch gezogen.
Unterhalb der Stromschnelle ist das Wasser etwas ruhiger. Unser Boot ist halb
voll geschlagen, so dass wir mühsam zum Ufer paddeln. Als du aussteigen willst,
treibt das Heck herum. Erschrocken trittst du zurück. Das ist zu viel für den
voll gelaufenen Kahn, er schlägt blitzschnell um und wir liegen im Wasser. Gut,
dass wir die Schwimmwesten um haben, wir haben alle Hände voll zu tun, das
Boot, die beiden Paddel und die Tonne, die sich los gerissen hat, an Land zu
bekommen. Andere helfen uns, so können wir uns von dem Schreck erholen. ...
Nach einer Weile sind unsere Sachen etwas getrocknet, ich zurre die Tonne besser
fest und wir trauen uns wieder ins Wasser. Wir sind noch gar nicht lange
gefahren, da wird eine der drei wirklich gefährlichen Stromschnellen angekündigt:
„La dent noir“. Schon der Name ist zum Fürchten und uns beschleichen bange
Gefühle. Hinter uns kommt ein Boot mit Deutschen, die den Fluss zu kennen
scheinen. Wir lassen sie vorbei und tun genau dasselbe wie sie: umso stärker
paddeln, je kräftiger die Strömung ist. So kommen wir heil durch die Wirbel
und begreifen: Nur wenn das Boot schneller ist als das Wasser, kann man es
lenken. An einem Sandstrand legen wir an, essen, trinken und schwimmen in dem
herrlich warmen Wasser, nackend wie die meisten anderen. Auf der anderen Seite
ist eine Sprungstelle, es ist ein wunderschönes Bild für mich, dich mit
wehenden Haaren kopfüber in die Fluten springen zu sehen. Und weil wir hier
ganz alleine sind, und die Büsche und das Gras so einladend aussehen, und wir
ohnehin nichts an haben und uns doch lieben – so tun wir es eben.
Am frühen Abend erreichen wir das Ziel und werden vom Vermieter wieder ins Camp
gebracht. Wir bestellen ein kräftiges Essen und Wein, womit die Lebensgeister
schnell wiederkehren. Abends legen wir den Schlafsack an den Strand. Es ist
wunderbar, direkt unter dem Sternenhimmel zu schlafen. „Mit dir kann man
Pferde stehlen“, flüstere ich dir ins Ohr. „Dazu braucht man aber einen
Mann wie dich“, meinst du und küsst mich liebevoll.
Nach einer Fahrt durch das Land kommen wir in das kleine Dorf Lacoste. Wir
steigen die steilen Gassen bis zum Glockenturm hinauf, den wir beide malen. Er
ist aus Kalkstein gebaut, mit einer grazilen Schmiedekonstruktion als Glockenträger
auf schönen Kapitellen. Über dem Dorf gibt es ein Plateau, mit vielen Kräutern
bewachsen. Le soleil brille (wir übersetzen das mit „die Sonne brüllt“),
kein Mensch ist um diese Mittagsstunde in der Gegend, wir breiten unsere Decken
auf einer kleinen Wiese aus, ziehen uns aus und lassen uns Brot, Käse und Wein
schmecken. Als Dessert genießen wir die vollkommene Gemeinschaft lange und
ausgiebig, und es ist wunderschön in dieser herrlichen Natur unter der warmen
Sonne. Um uns herum wachsen duftende Kräuter in Mengen: Pfefferminze, Salbei,
Thymian, Lavendel und viele andere, und auch sie tragen zu unserer glücklichen
Stimmung bei. Später pflückst du, nackt wie Gott dich geschaffen hat, Lavendel
und windest mir einen Kranz daraus.
Keine Autofahrt liegt vor uns, kein Hotelfrühstückstermin zwingt uns zum
Aufstehen – allerdings bringt uns auch niemand das Frühstück ans Bett. Wir
malen auf der Terrasse unseres Hauses gemeinsam ein letztes Urlaubsbild: die
Rose und das Vogelhäuschen. Du malst fantasievoll in leuchtenden Farben die
gerade erblühte rote Rose, ich konstruiere sehr exakt das dahinter stehende
Vogelfutterhaus auf dem dreibeinigen Ständer. Es ist der gelungene Abschluss
eines gelungenen gemeinsamen Urlaubs. Gelungen deshalb, weil wir aufeinander
eingegangen sind, Hand in Hand gearbeitet haben, weil jeder bemüht war, den
anderen auch zur Geltung kommen zu lassen, weil wir in Liebe miteinander
umgegangen sind. Unsere Liebe ist größer geworden in diesen 4½ Wochen. Wir
freuen uns darauf, bald wieder zu zweit eine gute Zeit und ein freies Leben
genießen zu können.
1982
Ende Juli nutzen wir eine Reise nach Ludwigshafen, um im Elsass unseren 25.
Jahrestag zu feiern. Da das Hotel du Cerf in Neuwiller-les-Saverne nicht mehr
existiert, fahren wir nach Strasbourg, wo wir viele interessante Ecken finden,
die wir damals nicht gesehen haben. Dass wir lange und innig unser Jubiläum
feiern, versteht sich von selbst.
Im Herbst danach feiere ich mein 25-jähriges Jubiläum bei der HEW. Samstag
Nachmittag laden wir meine beiden Unterabteilungsleiter mit Frauen und meine
Sekretärin in ein spanisches Restaurant zum Essen und Tanzen ein.
1983
Unsere Silberhochzeit feiern wir auf einer Kreuzfahrt im Mittelmeer:
Ephesos lag früher am Meer, eine Prachtstraße führt noch zum alten Hafen. Wir
sehen Tempel, Badehaus und Freudenhaus. Hier hat man eine Figur mit überlangem
Phallus gefunden. Auch ein Toilettenraum wird uns gezeigt für gemeinsame
„Sitzungen“, eine Eckbank mit entsprechend geformten Öffnungen. Besonders
beeindrucken uns die wieder aufgebaute Bibliothek des Celsos und das Theater, in
dem vor zweitausend Jahren Paulus mit Silberfiguren der Diana beworfen wurde.
In einem Teppichgeschäft hören wir einen Vortrag über Teppicharten und das Knüpfen
von Teppichen. Wir haben uns beide in einen kleinen seidenen Gebetsteppich
verliebt, einen Hereke von großer Farbenpracht und Ausdruckskraft. Wir
vergleichen ihn mit anderen, aber er gefällt uns am besten. Er ist teuer und
ich bin nicht sicher, ob wir übers Ohr gehauen werden. Schließlich kaufen wir
ihn doch.
Am Nachmittag unserer Silberhochzeit erreichen wir Heraklion
auf Kreta. Eigentlich will ich dir nur ein paar Blumen kaufen, aber dann siehst
du einen wunderschönen goldenen Armreif mit Widderköpfen und Einlagen aus
farbiger Emaille. Wir handeln etwas vom Preis ab und ich hätte ihn längst
gekauft, aber dir ist er noch zu teuer. Als du schon in der Tür bist, nennt man
uns einen guten Preis und strahlend nimmst du mein Geschenk an. Auf der Straße
fällst du mir um den Hals und küsst mich. Deine Freude über dieses herrliche
Stück ist für mich das schönste Geschenk zu unserer Silberhochzeit.
1984
Im Frühjahr fliegen wir für zwei Wochen in den Senegal,
wo wir eine interessante Rundfahrt mitmachen und in einem Club segeln lernen.
Mitte Juni fahren wir in die Normandie. Beim Baden und Sonnen in den einsamen Dünen ist es viel
schöner, miteinander eins zu werden als im Zimmer oder Zelt. Nach einer Woche
fahren wir ins belgische Ceran für einen Intensivkurs in Französisch. Über
Reims, Dijon und die Route Napoleon kommen wir an die Cote Azure. Fünf Tage
sind wir in einem Camp nicht weit vom Meer, wo jede Nacht eine Nachtigall singt.
Dann geht es durch Italien und den Montblanc-Tunnel nach Savoyen und weiter nach
Ludwigshafen.
Einmal fährst du im Regen von Ludwigshafen zurück. Hinter einer Kurve ist ein
Stau. Rechts ist die Schlange kürzer. Du bremst und willst nach rechts, aber
der Wagen rutscht weiter geradeaus. „Stotterbremse!“ rufe ich, und während
dein rechter Fuß wie ein Maschinengewehr die Bremse bearbeitet, kannst du
wieder lenken. Neben dem letzten Wagen kommen wir auf dem Standstreifen zum
Stehen. Du bist ganz ruhig, und auf meine Frage, ob du weiter fahren willst,
antwortest du „Natürlich!“. Ich weiß, wie gut du fährst. Abends im Bett
kuschelst du dich an mich und sagst leise: „Das war gut, dass du mir vorhin
geholfen hast mit dem Auto.“ Doch ich sage dir, dass ohne deine schnelle
Reaktion meine ganze Hilfe nichts genutzt hätte. Es ist immer wieder eine beglückende
Erfahrung, dass wir beide gemeinsam viel mehr als doppelt so stark sind wie
einer allein.
1985
Nach einem Skiurlaub mit deiner Jiu-Jitsu-Gruppe in Österreich im Frühjahr fahren wir im Sommer in die Toskana. Nach zwei Tagen in Florenz und einer Woche bei Siena geht die Fähre nach Korsika. Wir schlafen auf Campings oder in Hotels und wechseln nach Sardinien. Über Oristano, wo die Gegend so einsam ist, dass wir uns in freier Natur einander hingeben können, geht es mit der Fähre wieder nach Livorno und nach zwei Tagen nach Amorbach zur Systemanalyse für die BASF.
1986
Mitte Juni fahren wir von Ludwigshafen auf den Zeltplatz
bei Siena zum Malen. Auf Elba machen wir den Küstensegelschein (BR) und segeln
zwei Wochen um die Inseln herum bis Korsika.
Im Herbst halte ich auf der Interkama einen Vortrag über meine Idee, gestörte
Netzkomponenten durch das Leitsystem selbstständig erkennen und darstellen zu
lassen.
Zum Ende des Jahres wird die HEW umorganisiert und mir angeboten, zur
CONSULECTRA zu wechseln. Als meine Bedingungen für eine jährliche erfolgsabhängige
Prämie und einen zusammen hängenden sechswöchigen Sommerurlaub akzeptiert
werden, gehe ich ganz in die Beratung.
1987
Bei der CONSULECTRA geht es gleich in
die Vollen: Für die Stadtwerke Wiesbaden soll die Funktionsfähigkeit eines
neuen, recht dubiosen Leitsystems beurteilt werden. Nach drei Wochen Skiurlaub
in Savoyen beginne ich diese Arbeit und merke bald, dass ich eine
Sisyphusaufgabe vor mir habe. Doch ich habe gelernt, ein komplexes Problem in überschaubare
Detailprobleme aufzudröseln. So können wir den Hersteller zwingen, in
Einzeltests alle Funktionen nachzuweisen, und erarbeiten Listen zu prüfender
Eigenschaften. Ich bin in vielen Wochen von Sonntag bis Freitag in Wiesbaden. Du
begleitest mich oft und fährst mit der S-Bahn nach Frankfurt.
Für sechs Wochen fliegen wir in die Türkei. Zuerst sind wir eine Woche in
einem Club am Bafasee und machen Exkursionen in die alte griechische
Kulturlandschaft der Westtürkei.
Priene ist noch gut erhalten Es wurde auf einem Berghang auf kleinstem Raum
errichtet, gilt trotzdem als die eleganteste der historischen Städte und hatte
in seiner Blütezeit 5.000 Einwohner. Wir gäben
schon etwas dafür, jetzt in der Zeit zurück zu reisen und eine Aufführung mit
den alten Bewohnern erleben zu können. Auf dem Rückweg halten wir zum Cay.
Wieder sind wir unter lauter Männern, die so aussehen, als ob sie schon den
ganzen Tag hier hocken.
Vier Wochen segeln wir auf einer Ketsch mit Skipper Uwe in
den ausgedehnten Gökova Körfezi und dann um die Südwestküste des Landes fast
bis Marmaris.
Heute führst du das Ruder und bringst uns in die Bucht, wo Ibrahim seine Kneipe
hat. Uwe hat uns schon tolle stories über die abendlichen Gelage hier erzählt.
Die Kneipe ist komfortabel und wird im Laufe des Abends proppevoll. 16 Boote
liegen in der Bucht und alle Crews sind hier versammelt. Dazu kommt noch eine
Menge türkischer Männer von wer weiß woher. Nach dem Essen tritt Ibrahim in
Aktion. Zuerst tanzt er allein, dann fordert er dich auf. Die ganze Mannschaft
schlägt den Takt. Es wird viel getanzt an diesem Abend und du wirst immer
wieder aufgefordert. Ich freue mich, dass es dir Spaß macht. Ein besonders
mutiger Türke tanzt sogar dazu mit dir auf einem Tisch, was
hier als Gipfel der Verrufenheit gilt. Natürlich beobachte ich Euch, um dir
notfalls zu helfen, aber die Sache ist völlig harmlos. Nach Mitternacht willst
du in die Koje und ich merke, dass das Tanzen nicht spurlos an dir vorüber
gegangen ist. Du drängst dich an mich, streichelst mich und küsst mich. Gerne
zeige ich dir ganz zärtlich, dass dein Vergnügen an diesem Abend auch mir
Freude gemacht hat. Außerdem bin ich stolz auf dich, dass du nicht nur für
mich so attraktiv bist.
1988
Im Auguat fliegen wir nach Athen .Den ganzen Tag über durchstreifen wir die Stadt. Vier Stunden bleiben wir im
Museum. Auf der Akropolis stehen wir ergriffen vor den schönen und imposanten
Zeugen unserer frühen Kultur. Der halb zerstörte Parthenon-Tempel
beeindruckt uns
unwahrscheinlich. Diese kühne und leichte Architektur, diese handwerkliche
Vollkommenheit findet man sonst nirgendwo auf der ganzen Erde. Tief beeindruckt
steigen wir nach langem Aufenthalt hinunter und essen unter der Umfassungsmauer
in einem Gartenrestaurant bei einem Glas Wein zu Abend. Hand in Hand schlendern
wir dann zum Hotel, um immer noch bewegt von dem Gesehenen den Tag miteinander
ausklingen zu lassen.
Ein Törn von 50 sm liegt vor uns. Das anfangs ruhige Wetter verschlechtert sich
bald, EG hängt als Erster über der Reling. Schnell muss die Genua runter und
kurz danach das Groß gerefft werden. Wir merken schmerzlich, dass unser Boot
ein recht flaches Sportboot ist, das jede Welle mitnimmt. ... Bald geben schon
vier das Essen von sich. Anne geht es noch gut, sie sagt: „Wenn dir beim
Kotzen ein brauner Ring zwischen die Zähne kommt, schluck ihn wieder runter,
das ist das Arschloch.“ Mir wird kalt und ich will mir etwas zum Anziehen
holen. In der Kajüte erwischt es mich auch. Ich kann mir gerade noch eine Tüte
schnappen. ... Im Salon liegen EG und Anne, zugedeckt wie Patienten. Ich
versuche hoch zu kommen, doch mir wird dauernd wieder schlecht. Als ich zur
Toilette will, sehe ich EG halb vor dem Becken liegen. Er hat es umklammert, um
bei dem Schlingern nicht weg zu rutschen. Brigitte hat fürchterliche Angst.
Schlafen ist nicht möglich wegen des irre lauten Motors.
Früh um 4:30 wird der Motor ausgeschaltet, nach 18 Stunden Fahrt machen wir an
einer Mole in einem hell erleuchteten Fischerort fest.
In Akrothiri auf Santorin bewundern wir die ausgegrabenen Zeugen der Zeit vor
der Vulkaneruption: Hauswände, Skulpturen, wunderschöne Fresken. Beim
Abendessen sprechen wir über die griechischen Götter und EG erwähnt, dass
Zeus oft andere Gestalt annahm, z. B. eine Frau als Goldregen schwängerte. Als
ich sage, ich versuche mir das praktisch vorzustellen, lacht man am Nebentisch,
dann der kleine Sohn: „Mama, warum lachst du?“ Der Vater antwortet: „Das
erkläre ich dir, wenn du 18 bist.“ Neues Gelächter an den Tischen. Der
„Goldregen“ beschäftigt uns noch die halbe Nacht.
Die
ganze nächste Nacht hindurch laufen wir mit Kurs 1800 bei raumem Wind von 5 bft und Vollmond auf Backbordbug. Ich schlafe, so gut es geht. Zunächst
sind Andreas und Gerd oben, ich schlafe angezogen in Bereitschaft. Um 5 Uhr lösen
wir die beiden ab. Es ist ein herrlicher Morgen für uns beide, kaum ein Schiff
zu sehen. Frühstück nur Sesam und Cola, um 10 sehen wir die Insel Dia vor
Heraklion, wir haben die Stadt genau getroffen. Um 12 Uhr sind wir am Kai fest,
essen eine Kleinigkeit und hauen uns erst mal hin. Wir sind alle hundemüde.
Um 7 Uhr auf, wir trinken am Imbiss frisch gepressten Orangensaft, dann geht es in
Serpentinen steil bergab . Es wird immer heißer, zum Glück gibt es überall
Quellen. Wir haben uns Zitronen mit genommen, an denen wir lutschen. Trotzdem
schütten wir uns an jeder Quelle Wasser über den Körper, eine Weile sind wir
dann klitschnass. 18 km sollen es sein, jeder km wird durch einen Stein
angezeigt. Ab und zu ruhen wir uns eine Weile aus. Später kommen wir in das
Flussbett. Immer wieder müssen wir den Fluss über Stämme queren, steile Felswände
türmen sich. Mir tun erst die Füße, dann die Knie weh vom abwärts Laufen.
Endlich der erste Erfrischungsstand, wir nehmen sofort wieder frischen
Orangensaft. Dann sehen wir zwischen den Bergen das Meer. Adjia Rumeli ist ein
Dorf mit vielen Restaurants und vielen erschöpften Leuten. Es ist 14 Uhr. Ich
spüre meine Knochen bis zur Hüfte. Nach dem Sitzen komme ich kaum hoch. Wir
essen Salat und trinken viel. Nachdem wir die Schiffskarte erstanden haben, denn
anders kommen wir hier nicht weg, baden wir. Die Kiesel am Strand sind so heiß,
dass man Brandblasen kriegt.
1989
m Mai halte ich in Brighton einen Vortrag über die
Darstellung von Mittelspannungsnetzen und bleibe mit dir anschließend drei Tage
in London.
Im Sommer steht die Türkei wieder auf dem Plan. Wir fliegen nach Istanbul und
nehmen uns fünf Tage für diese wirbelnde Stadt. In Ankara treffen wir die
Reisegruppe von Studiosus, mit der wir zwei Wochen unterwegs sind. Das
Nationalmuseum, Hattuscha, Konya, Kappopdokien und Antalya bekommen wir zu
sehen. In Konya beschäftigen wir uns mit der Lehre Mevlanas.
Der Bus bringt uns nach Marmaris zum Segeln, eine Woche Auffrischungskurs in der
Bucht und eine Woche Flottille von Fetye aus. Wir sind alleine auf einem
10-Meter-Boot und segeln jeden Tag selbstständig zum vorgegebenen Ziel. Die
Eleganz, mit der du das Boot an den Steg bringst, während ich den Anker werfe,
wird von den türkischen Fachleuten bewundert. Und wir haben viel Zeit nur für
uns auf dem Boot. Im Restaurant philosophieren wir mit zwei Familien die halbe
Nacht über Mevlana und religiöse Fragen.
Im Herbst musst du dir die Gebärmutter entfernen lassen und hast zuerst
Schwierigkeiten beim Wasser lassen.
Frankfurt, den 10. 12. 89
Meine Liebe, Geliebte,
W
da ich nicht am Telefon mit Dir sprechen kann, will ich Dir einen Brief
schreiben. Weißt Du, auf ein paar Tage mehr oder weniger kommt es überhaupt
nicht an. Wichtig ist, dass Du Deinem Körper Ruhe lässt und Dir auch seelisch
die notwendige Ruhe nimmst. Ich kann Deine Ungeduld gut verstehen, ich habe sie
ja selbst. Doch es ist besser, wenn Du erst zum Wochenende raus kommst, weil ich
dann zu Hause bin. Ich kann Dich abholen, Dich betreuen und pflegen.
Denk schon ein bisschen an den nächsten Urlaub. Zwar wissen wir noch nicht,
wohin wir fahren werden, aber Sonne und warmes Meer werden bestimmt dabei sein.
Stell Dir vor, wir schwimmen im Mittelmeer, dann werden Dir Deine
Schwierigkeiten ganz unwirklich vorkommen. ich freue mich jedenfalls schon mächtig
darauf, wieder mit Dir zusammen Ferien zu machen. Mit Dir zusammen zu sein,
gemeinsam Schönes zu erleben, macht das Erlebnis mehr als doppelt so schön. Es
ist, weil Du dabei bist, weil ich fühle, wie auch Du Dich freust und das
Erleben genießt, weil ich Dich liebe.
Doch bald fahren wir nach Südtirol. Und wenn Du auch noch nicht so viel Ski
laufen wirst, wird es trotzdem schön für uns werden, weil wir viel mehr Zeit füreinander
haben als jetzt, wo wir uns nur jeden Tag eine Stunde sehen. Weißt Du, dass Du
mir fehlst? Mit Dir zusammen zu sein – auch wenn wir abends nur nebeneinander
sitzen und fernsehen – ist für mich die schönste Zeit des Tages. Zu wissen,
Du bist da, Du bist für mich da und ich für Dich, Deine Nähe zu fühlen, ist
schön und gibt mir die Kraft zu meiner anstrengenden Arbeit. Wenn ich Dir sage,
dass Du ein Teil meines Lebens bist, der wichtigste und schönste, so ist damit
nur ungenau beschrieben, was ich ausdrücken will, was ich fühle. – So, meine
Liebe, nun werde ich noch einen Spaziergang machen. Ich wünsche Dir alles Gute,
genauer gesagt, dass alles gut wird. ich liebe Dich und wäre viel lieber mit
Dir zusammen.
Ich küsse Dich ganz herzlich und denke viel an Dich, Dein Ernst-Günther
1990
Im Sommer fahren wir nach Jugoslawien, das wir noch gar
nicht kennen. In Zadar treffen wir Andreas und nehmen
unser Boot für einen zweiwöchigen Flottillentörn durch die Kornaten in
Empfang. Diese Art zu segeln gibt uns die Freiheit eines eigenen Bootes und
gleichzeitig die Sicherheit, bei Problemen in kurzer Zeit Hilfe zu bekommen.
Nach dem Törn verlässt Andreas uns und wir bewegen uns zeltend über die
Inseln Rab, Cres und Krk weiter nach Norden. Eines Abends essen wir einen köstlichen
Lammbraten mit dem auch hier vorzüglichen Rotwein dazu. Nach dem Essen bietet
der Wirt uns Slibovic an. Mir ist die Portion zu groß, weil ich noch fahren
muss, du trinkst meinen Rest aus und hast einen Schwips. Im Camp willst du noch
schwimmen gehen. Wir baden nackend und nach dem Bad umarmst du mich stürmisch.
Natürlich lasse ich mich auf den Kieseln des Strandes gerne von dir verführen.
Würselen, den 30. 7. 90 Meine liebe Karin, Geliebte
W
es ist so schade, dass ich heute nicht bei Dir sein kann an unserem Jahrestag.
Vor dreiunddreißig Jahren haben wir unsere Gemeinschaft besiegelt und es ist für
mich immer noch ein Wunder. So sitze ich nun alleine auf dem Balkon und denke an
Dich und unseren gemeinsamen Urlaub in Jugoslawien. Wenn es noch eines Anstoßes
bedurft hätte, meine ständige Arbeit so früh wie möglich an den Nagel zu hängen,
so ist es dieser Urlaub mit Dir. Diese Wochen mit Dir waren wunderschön. Ich
danke Dir von ganzem Herzen dafür, dass Du sie so schön gemacht hast. Mit Dir
zu verreisen, ist immer ein Erlebnis und ich habe es stets genossen, doch dieser
Urlaub gehört für mich zu den ganz besonderen. Sicherlich hinterlässt das
gemeinsame Erleben den bleibenden Eindruck. Aber ich glaube, es ist mehr, und
das liegt an Dir. Es ist so toll, dass Du alles mit machst. Dass wir zelten können,
wo es am schönsten ist, und sei es ein FKK-Platz. Dass Dir das Segeln Spaß
macht und Du es glänzend kannst. Dass Du interessiert bist, alte Kultur zu
sehen. Dass man mit Dir auf einer Mauer sitzen und Musik hören kann. Dass Du
immer zur Liebe bereit bist und Freude daran hast. Dass Du einen Sonnenuntergang
schön findest.
Wir haben wohl das Glück, viele Interessen gemeinsam zu haben. Aber darüber
hinaus meine ich, dass Du vielfach auf mich eingehst und wir uns daher so gut
verstehen. Und dafür danke ich Dir ganz besonders. Deshalb freue ich mich auf
die Zeit, wo ich Dich nicht jeden Morgen für einen Tag oder mehrere verlassen
muss, sondern Zeit für Dich habe, besser – wo wir Zeit füreinander haben,
viel mehr Zeit als jetzt. Es ist so vieles, was wir vernachlässigt haben, weil
mir in der Woche die Spannkraft dafür fehlt: Zum Beispiel die Theaterbesuche.
Oder das Bummeln in der Stadt. Oder einfach das gemeinsame Spazieren gehen. Auch
an das gemeinsame Lernen, wie im Silberschmiedekurs erinnere ich mich gerne.
Solche Aktivitäten und anderes mehr können wir – müssen wir – wieder
anfangen. Und ich freue mich darauf, sie mit Dir zusammen anzufangen. Natürlich
werden wir reisen – mehr als jetzt. Wir werden Länder und Gegenden wieder
besuchen, die uns gut gefallen haben, und andere Länder neu kennen lernen. Und
ich wünsche uns, dass wir noch viel Zeit miteinander haben und diesen –
unseren – Jahrestag noch oft miteinander feiern können. Das „miteinander“
ist wichtig.
Meine Karin, ich liebe Dich über alles und Du bist mein Leben! Ich küsse Dich
von Herzen Dein Ernst-Günther
Im November besuchen wir mit Andreas ein Tierarztpaar bei Dresden, deren Tochter er beim Fall der Mauer kennen gelernt hat. Sie zeigen uns die Stadt und gehen mit in die Semperoper. Dann fahre ich mit meinem CONSULECTRA-Kollegen auf eine Werbetour durch die ostdeutschen EVU. Zwischen Frankfurt und Berlin geraten wir auf vereister Straße ins Schleudern und rutschen zwischen zwei Bäumen hindurch auf den Acker. „Bist du okay“, fragt der Kollege. „Ja“, sage ich, „du musst aber nicht glauben, dass ich den Wagen bewusst zwischen den Bäumen hindurch gelenkt habe.“ Ein Trecker zieht uns auf die Straße und wir sind noch pünktlich bei der Reichsbahn in Berlin.
1991 Literaturverzeichnis Seitenanfang
Meinen 60. Geburtstag feiern wir bei herrlichem Wetter auf der Terrasse. Viele Kollegen sind gekommen. Nach einer zärtlichen Nacht beschwerst du dich scherzhaft, du hättest schon lange keinen Liebesbrief von mir bekommen.
Frankfurt, den 25. 4. 91
W
Geliebte, Du hast Recht: schon lange habe ich Dir keinen Liebesbrief mehr
geschrieben. So soll dieser ganz besonders schön werden. Dass ich Dich über
alles liebe, habe ich Dir oft gesagt und es wird durch die Wiederholung nicht
weniger wichtig für mich. Du bist und bleibst der wichtigste und schönste Teil
meines Lebens. Ohne Dich wäre es unendlich viel ärmer und öder. Seit wir uns
vor 35 Jahren gefunden haben, weiß ich das und es war immer so, auch wenn es für
Dich manchmal nicht so aussah. Doch ich glaube, ich habe Dir nie gesagt, warum
ich Dich so sehr liebe. Das will ich jetzt nachholen:
Da ist als Erstes Deine unverbrüchliche Liebe, die Du mir schon nach einem
dreiviertel Jahr bewiesen hast, als ich meinen Fuß verlor. Ich weiß nicht, was
aus mir geworden wäre, wenn Du mich damals verlassen hättest. Doch auch danach
hast Du sie mir immer wieder bewiesen, selbst wenn ich sie nicht verdient hatte.
– Liebe ist auch Erotik. Mit Deiner stetigen Zärtlichkeit, Deinen innigen Küssen,
Deiner Freude an der Vereinigung mit mir und Deiner völligen Hingabe dabei hast
Du mich immer wieder unendlich glücklich gemacht, auch wenn Du wenig darüber
gesprochen hast. Und hier kann ich Deine Treue ansprechen. Ich konnte stets
sicher sein, dass Du nie tun würdest, was ich Dir vor über zwölf Jahren
angetan habe.
Deine Schönheit ist einzigartig. Du warst für mich vor 35 Jahren das schönste
Mädchen der Welt und bist immer noch die schönste Frau. Deine Figur hat sich
trotz der Schwangerschaften kaum verändert und obwohl Du wenig Kosmetik
anwendest, ist Dein Gesicht schön und Deine Haut frisch wie eh und je. Kein
Mensch glaubt Dir Deine 55 Jahre. Dein stets natürlich gepflegtes Aussehen,
selbst nach schwerer Gartenarbeit oder einer wilden Nacht begeistert mich jeden
Tag.
Du bist eine großartige Kameradin. Mit Dir kann man Pferde stehlen gehen. Was
wir zusammen unternommen und erlebt haben, ist so unglaublich, dass viele Männer
es nicht mit gemacht hätten. Deine Freude, etwas Neues zu erleben, hat mich oft
mit gerissen.
Ich liebe Deine Ausgeglichenheit, Dein stets fröhliches Wesen. Wenn ich
belastet von Problemen nach Hause kam, hast Du mich schnell wieder aufgebaut,
indem Du die Probleme anhörtest und in die richtige Größenordnung
einstuftest. Oft hast Du Lösungen vorgeschlagen. Und wenn wir über etwas
unterschiedlicher Meinung waren, hast Du stets darauf geachtet, dass unsere
Liebe nicht darunter litt, indem Du sachlich bliebst, selbst wenn ich in
Emotionen verfiel.
Ich weiß nicht, womit ich Dich verdient habe. Aber Ich danke Gott, dass ich Dir
damals begegnet bin und danke Dir, dass Du mich angenommen und bis jetzt zu mir
gehalten hast. Ich freue mich mächtig, dass ich künftig mehr Zeit für Dich
habe und Dir meine Liebe stetig beweisen kann. Als Erstes liegen vier herrliche
Monate vor uns, die mit Dir ganz besonders schön sei werden. Hab Dank,
Geliebte!
Ich küsse Dich (morgen Abend richtig), Dein
Ernst-Günther
Ende Mai gibt die CONSULECTRA eine große Abschiedsfeier für
mich. Alle Leittechnik-Hersteller, die meisten Kunden und viele Kollegen sind
gekommen. Reden werden gehalten, in denen man mich über den grünen Klee
lobt. In meiner Antwort danke ich zwei Menschen, meinem langjährigen Mentor und
Chef Abel und vor allem dir. Dass du einen wesentlichen Anteil an meinem Weg und
Erfolg hast und dass ich dir dafür unendlich dankbar bin, sollen ruhig einmal
alle hören. Dann überreiche ich dir rote Rosen und küsse dich vor allen Gästen.
Großer Beifall bestätigt meine Worte.
Drei Tage später ist mein letzter Arbeitstag. Wir haben schon abends die Rucksäcke
am Hauptbahnhof deponiert. Nachdem ich im Büro Brötchen und Sekt spendiert
habe, verlasse ich ohne Bedauern diese Stätte eines langen erfolgreichen
Wirkens. Denn ich kann jetzt mit dir, die ich über alles liebe, vier Monate
ununterbrochen zusammen sein. Wir fahren im Liegewagen nach Venedig, wo wir uns
mit großem Interesse die Ausstellung über die Kelten in Europa ansehen und
gehen abends an Bord des türkischen Schiffes, das uns in drei Tagen nach
Antalya bringt. Wir haben die Luxuskabine gebucht und staunen nicht schlecht,
darin ein veritables king size Bett vorzufinden. Wir nutzen es ausgiebig auf
dieser schönen, erholsamen Seereise.
Von Antalya fahren wir mit dem Bus nach Westen. Nach Nächten in Kas
und bei der Lagune Ölü Deniz gehen wir Samstag in Marmaris
auf das Mitsegelschiff. Nach zwei Wochen sind wir wieder in Marmaris.
Dann geht es weiter nach Adana, wo wir die Studiosus-Reisegruppe treffen. Die nächste Nacht verbringen wir
in einem kleinen Bergdorf, wo wir auf der Terrasse schlafen. Die Nacht unter dem
Sternenhimmel ist ein besonderes Erlebnis. Ein bleibender Eindruck ist auch der
Sonnenaufgang bei den Götterfiguren des Nemrut
Dagh.
Am Vansee bleiben wir vier
Tage, fahren in die Berge und kaufen einen Kelim. Einen halben Tag besichtigen
wir den fantastischen Ishak Pascha Palast aus dem 17. Jh. In Erzurum,
einer sehr frommen Stadt, besiehst du die Auslagen eines Goldschmiedes. Zwei
verschleierte junge Frauen kommen dazu und verständigten sich kichernd mit dir
über die Schmuckstücke. Durch Teeplantagen fahren wir hinab nach Trabzon
und fliegen von dort nach Istanbul. Mit Besichtigungen von Bauwerken, die wir
noch nicht kennen, geht nach drei Wochen die Rundreise zu Ende.
Edirne und Canakkale erreichen wir mit Bus und Fähre und bleiben ein paar Tage.
Nach dem Besuch von Troja und dem Museum geht es weiter, um von Ayvalik
nach Lesbos zu kommen. In einer miesen Absteige bekommen wir ein Zimmer. Nach
zwei Monaten ist die erste Hälfte unseres Abenteuerurlaubs vorbei, doch die
zweite wird nicht weniger abenteuerlich.
Auf Lesbos finden wir an der Südküste in Plomarion ein
nettes Hotel. Nach vier Tagen in Sigrion
an der Westküste fahren wir nach Mythimna
im Norden. Hier treffen wir zum ersten Mal eine ganze Menge Touristen. Es gibt
einen schönen Badestrand mit einem kleinen, recht freizügigem FKK-Bereich.
Auf Chios bringt uns eine
Taxe nach Pirgi. Wir mieten uns Mopeds, auf
denen wir die Insel erkunden. Einmal stockt mir der Atem, als du vor mir ohne zu
bremsen über eine breite Rinne im Asphalt fährst, die du nicht gesehen
hast. Ich sehe dich schon mit gebrochenen Knochen auf der Straße liegen, aber
irgendwie schaffst du es, ohne Sturz drüber zu kommen. Als wir danach anhalten,
umarme ich dich erst einmal glücklich.
In Patmos wird es abenteuerlich, denn anders
als bisher sind alle Unterkünfte ausgebucht. Allmählich begreifen wir, dass
Patmos mit dem Johanneskloster eine der heiligsten Stätten des Landes ist und
der Kalender gerade Mariä Himmelfahrt anzeigt, einen der höchsten Feiertage
der orthodoxen Kirche. Wir wollen am Strand eine Schlafstelle suchen, doch im
Campingplatz gibt es eine Sandkuhle für Leute wie uns. Mit Bastmatten richten
wir unser „Bett“ ein. Abends diskutieren wir mit jungen Leuten aus ganz
Europa die halbe Nacht über Gott und die Welt. Am nächsten Tag besuchen wir
das eindrucksvolle Kloster und erfahren, dass am folgenden Morgen ein Boot nach Kalymnos
geht.
Auf Kalymnos finden wir ein ordentliches Hotel, von wo aus wir per Bus die schönsten
Stellen der Insel besuchen. Einen Tag verbringen wir auf einer kleinen
Nebeninsel mit frisch geschossenem Bergziegenfleisch zum Mittag.
Das nächste
Ziel ist Kos. Wir fahren zunächst nach Kephalos an der Südwestspitze. Die
Paradissos-Bucht ist zauberhaft, klares Wasser, breiter Sandstrand, FKK üblich
und wenige Leute. Wir bleiben den ganzen Tag und nutzen eine unbeobachtete
Stelle hinter Büschen für uns ganz persönlich. Nach zwei Nächten fahren wir
in die Hauptstadt und wohnen in einer Pension. Auf Fahrrädern erkunden wir
Insel. Das Asklepion und die Mosaiken sind den Ausflug wert.
Nach vier Tagen geht es weiter nach Tilos, einer kleinen einsamen Insel. Ein
Hotel mit wunderschönem Blumengarten nimmt uns auf. Eines Morgens machen wir
uns mit meiner Badeprothese auf den Weg zu einer einsamen Bucht. Nach einer
Weile will ich umkehren, doch du entdeckst Markierungen aus aufeinander
geschichteten Steinen, die einen Steig bis hinunter in die Bucht zeigen. Dort
sind wir ganz alleine und nutzen es auf unsere Weise.
Auf Rhodos mieten wir einen Wagen und fahren die Ostküste hinunter. In Lardos
machen wir Station, um Lindos
zu besichtigen, In Gennardion
essen wir bei einer alten Frau ein köstliches Fischgericht. In Kattavia bewundern wir die Surfer. Das Tal der Schmetterlinge in Petaloudes
ist ein Erlebnis und die Ruinen von Kamiros
zeigen uns, wie man vor 2.600 Jahren gebaut hat. Nach einer weiteren Nacht in der Stadt fliegen wir nach Athen und fahren
von Piräus durch die Straße von Korinth nach Ancona. Die Fahrt durch den Kanal
ist ein Erlebnis, auf jeder Seite bleiben nur wenige Zentimeter.
Das war die längste, abenteuerlichste, schönste, eindrucksvollste Reise, die
wir je gemacht haben. Wir beide haben sie mit allen Sinnen genossen. Und jeder
ist dem anderen dankbar, dass wir solche tollen Reisen gemeinsam unternehmen können.
1992
Das Skigebiet im österreichischen Saalbach-Hinterglemm ist
weitläufig, und wir genießen die erste Woche bei schönem Wetter. Danach stürzt
du und die Untersuchung im Krankenhaus zeigt einen Kreuzbandabriss im rechten
Knie. Nach einer Woche, in der ich vormittags alleine Ski laufe und dich
nachmittags besuche, fliegt der ADAC dich nach Hamburg und ich fahre mit dem
Autozug nach Hause. Erst Mitte Mai wird in Hamburg entdeckt, dass die Schraube,
die die Österreicher eingesetzt hatten, das Knie blockiert.
Gegeben am 1. 6. 92
Meine Liebe, Geliebte,
W
... Ich finde es schade, dass ich Dich nicht besuchen und mich mit Dir über
Deine Fortschritte beim Knie bewegen freuen kann. Wenn es so weiter
geht, kannst Du bald wieder alles machen.
Mir geht immer noch Deine Bemerkung im Kopf herum, ob ich Dich denn überhaupt
noch liebe, wo Du mir so viele Umstände machst. Das eine hat doch mit dem
anderen gar nichts zu tun. Liebe heißt doch, füreinander da zu sein, wenn
einer den anderen braucht. Und dass ich immer für Dich da sein will und sein
werde, hat für mich nie in Zweifel gestanden, seit wir uns 1956 nahe gekommen
sind. Dass Du genau so denkst, hast Du mir damals schon nach acht Monaten
bewiesen. Also, was uns auch noch in unserem Leben passieren sollte: Ich werde
Dich immer lieben und für Dich da sein. Für Dich und mit Dir gemeinsam etwas
zu tun, ist Freude für mich. So ist z. B. das gemeinsame Mittag-Bereiten für
mich eine Freude. Es ist schön für mich, mit Dir zusammen zu sein oder
zusammen etwas zu tun. Du bist nun einmal der bei weitem wichtigste Teil meines
Lebens, und ich habe Dir ja schon öfter gesagt, dass ich überzeugt bin, mit
keiner anderen Frau so glücklich hätte sein zu können wie mit Dir. (Der Satz
ist etwas verunglückt, aber Du verstehst mich.)
Dass Du mir fehlst, brauche ich Dir nicht zu sagen. Selbst in Deinem
augenblicklichen Zustand gehemmter Beweglichkeit hätte ich Dich viel lieber zu
Hause. ... Morgen Nachmittag fliege ich nach Nürnberg und fahre gleich nach
Erlangen. Übermorgen geht es dann nach Hamburg zurück. Wenn ich einigermaßen
pünktlich ankomme, will ich auf jeden Fall noch bei Dir rein schauen,
besonders, weil ich ja keine Möglichkeit habe, Dich wenigstens telefonisch zu
sprechen.
Nun meine Liebe, wünsche ich Dir weiter gute Fortschritte und freue mich, Dich
bald wieder zu sehen. Sei von Herzen geküsst von Deinem Ernst-Günther. Ich
liebe Dich!
Anfang November fliegen wir für vier Wochen nach Zypern ins Apollonia Hotel. Das Meer ist noch so warm, dass wir täglich schwimmen können. Auf geführten Touren und mit dem Bus erkunden wir die reichhaltigen Kunstschätze dieser schönen Insel. Für drei Tage unternehmen wir eine Schiffstour nach Israel und sehen die Altstadt von Jerusalem, die Klagemauer und die Geburtskirche in Bethlehem. Doch gerade hier wird uns die muffige Enge der meisten Religionen klar. Der Muslim, der stolz seine weiße Hadschmütze trägt, der streng gläubige Jude mit Hut und Schläfenlocken, der bärtige Priester, der die Ikone küsst, sind gleichermaßen Beispiele einer verbohrten Religiosität, in der nicht der Glaube wichtig ist, sondern nur das Erfüllen kruder Regeln.
1993
Peter, der seit einigen Jahren in Sydney arbeitet, lädt
uns zu einem Besuch ein. Die erste Etappe unserer achtwöchigen Reise ist ein
21-stündiger Flug nach Perth, der sich wegen der Zeitverschiebung über drei
Kalendertage erstreckt. Perth ist eine hübsche Stadt mit ausgedehnten Vororten.
Nach zehn Tagen fliegen wir weiter nach Adelaide und übernehmen
von Peters Sohn einen VW-Bus. Mit deiner wachsamen Hilfe gewöhne ich mich
schnell an das Fahren im Linksverkehr. Nach einer Woche erreichen wir Sydney.
Auch in dieser schönen Stadt sehen wir viel, klönen abends lange mit Peter und
Armgart und laden die beiden an einem Abend in die weltbekannte Oper ein. Zur
Erinnerung kaufe ich dir einen Ring mit einem unregelmäßig geschnittenen, tief
blaugrün leuchtenden Boulder-Opal, wie sie in Australien gefunden werden. Eine
Woche bleiben wir bei unseren freundlichen Gastgebern, dann bringen sie uns
morgens zum Bus
Von Cairns aus besuchen wir das Great Barrier Riff und schnorcheln über den
bunten Korallen und Fischen. Nördlich Cairns sind wir für eine Woche in einem
Ressort. Das Apartment ist eine richtige Wohnung mit drei Zimmern. Die
Kleiderschränke haben Spiegel auf den Türen, so dass wir uns bei der Liebe
zusehen können.
Weiter fliegen wir nach Darwin, der Stadt im fast tropischen Norden und machen
Touren in die Nationalparks, verbunden mit Bootsausflügen. Der Höhepunkt ist
der Flug mit einem Viersitzer auf eine Aborigine-Insel. Mit den Ureinwohnern
suchen wir Schildkröteneier, Muscheln und Würmer aus toten Bäumen. Bis auf
die Würmer schmecken die Funde. Schwimmen ist wegen der Krokodile nicht möglich.
Als du einen Strandspaziergang machst, beobachtete ich dich mit dem Fernglas.
Stolz bringst du einen Nautilus mit.
Ein paar Wochen später heiratet Barbara. Wir haben ein ganzes Waldhotel an der
holländischen Grenze gemietet, und es wird eine rauschende Feier mit vielen Gästen
aus dem Nachbarland. „Das war die schönste Hochzeit meines Lebens“, sagt
unsere Tochter, als sie sich mit ihrem Mann zur Hochzeitsreise nach Irland
verabschiedet.
Am 13. 8. reisen wir mit dem Autozug nach Lörrach und fahren weiter in das
Sirenencamp bei Agde. Doch die FKK-Szene ist freizügiger geworden. Einige Paare
praktizieren in aller Öffentlichkeit Petting und Fellatio und viele schauen zu.
Wir haben uns ja schon oft im Freien geliebt aber nie derart präsentiert. Du
magst dieses bewusste zur Schau stellen von Sex nicht. So verziehen wir uns ins
Zelt, wenn uns nach Liebe zumute ist. Nach zwei Wochen fahren wir weiter nach Spanien. Über
Tossa del Mar, Barcelona, und Cartagena kommen wir zu unserem südlichsten Ziel,
Granada mit der traumhaften Alhambra. Zurück geht es ins Elsass, wo wir uns nach einer Ferienwohnung umsehen. Nach einigem
Suchen mieten wir eine schöne Wohnung mit großem Wohnzimmer im Dorf
Steinenstadt, das zu Neuenburg am Rhein gehört.
Schon nach sechs Wochen sind wir wieder dort. Vier Wochen fahren wir umher und
suchen Möbel aus. Über die Kücheneinrichtung gibt es harte Diskussionen, weil
ich manche deiner Wünsche nicht einsehe, doch du setzt dich durch.
1994
Mitte Januar sind wir wieder in Steinenstadt, um die
bestellten Möbel in Empfang zu nehmen.
Ingrid, die mit ihrem zweiten Mann im Nachbarort zur Kur ist, besucht uns. Wir
kommen auf die Stellung der Partner in der Ehe. „In einer Gemeinschaft kann
nur einer die Richtung vorgeben“, meinst du wie selbstverständlich, „wenn
beide das wollen, gibt es ständig Streit. Das darf nicht heißen, dass der eine
seine Meinung durchsetzt und der andere nur zu folgen hat. Nein, gegen den erklärten
Willen des anderen darf nichts gehen. Alternativen müssen diskutiert werden und
beide müssen bessere Wege erkennen und akzeptieren. Und sicherlich gibt es auch
Felder, in denen der andere auf Grund seiner Erfahrung die Richtung vorgeben
sollte, z. B. in der Haushaltsführung.“ Ich habe mit dir nie über dieses
Thema gesprochen. Zum ersten Mal höre ich deine Ansicht dazu, und erst jetzt
wird mir klar, warum unsere Gemeinschaft so fabelhaft funktioniert hatte. Du
hast dich mir anvertraut, aber uns immer vor Irrwegen bewahrt, du großartige
Frau voller Weisheit!
1995
Um Barbara bei der Entbindung zu helfen, fährst du Anfang
Januar nach Holland, wo sie und Jeroen jetzt dicht an der deutschen Grenze
wohnen. Am 3. Februar wird Nadine zu Hause geboren. . Im März
sind wir wieder in Steinenstadt, von wo du für zwei Wochen zu einem Malkurs
nach Kreta fliegst.
Im Juli fahren wir nach Genova. Zwei Tage haben wir Zeit, die Stadt zu erkunden,
bis das Schiff nach Korsika geht. Vier Tage zelten wir bei Ajaccio. Um uns herum
sind lauter junge Paare, die sich nachts einander hingeben. Gerne lassen wir uns
anstecken und freuen uns, dass wir noch jung genug dazu sind. Am letzten Tag
essen wir in Bastia auf dem Marktplatz. Plötzlich erschallt aus einer
Seitenstraße eine MP-Salve. Viele Leute werfen sich auf den Boden, ich kann
dich überzeugen, dass die Separatisten den Touristen nichts tun. Am nächsten
Morgen hören wir, dass Terroristen sich gegenseitig umgebracht haben. In Genova
willst du noch in die Toskana fahren. Wir nutzen die Tage, um die schönen
kleinen Städte wieder zu sehen.
Mitte Dezember heiratet Andreas Lydia, die er während eines Urlaubs auf San
Lucia kennen gelernt hat. Sie ist im Sommer mit einem kleinen Jungen nach
Hamburg gekommen und inzwischen von Andreas schwanger. Kyria ist zufällig auf
Besuch und das Fest im Haus wird eine große Fete.
1996
Die CONSULECTRA hat aus Thailand eine Anfrage für ein
Seminar über Netzleittechnik erhalten und ich schreibe ein Angebot. Wir beide wollen Thailand kennen
lernen und machen Anfang April vor dem Seminar eine zweiwöchige Rundreise durch
den Norden des Landes. Besonders gut
gefällt uns Chiang Mai.
Anschließend wollen wir zehn
Tage in Hua Hin bleiben. Der Zug fährt eine Kuh tot und wir stehen fünf
Stunden, bis eine Ersatzlok aus Bangkok kommt. Das Hotel ist ein Gedicht. Ein
Paradiesgarten mit zwei Pools, dahinter der Meeresstrand, ein fantastisches Frühstücksbuffet
auf der Terrasse, alles zum Wohlfühlen. Abends sehen wir die Lichter der
Fischerboote auf See und beobachten im Hafen die Fischer.
Im November fragt die CONSULECTRA, ob ich für zwei Jahre nach Bangkok gehen
will. Zu meiner großen Freude sagst du, dass du mit kommen willst. Liebste, mit
dir kann man Pferde stehlen! Doch erst einmal fliegen wir für zwei Wochen in
ein Hotel auf Gomera. Wir
baden viel und bleiben eine weitere Woche auf Teneriffa.
1997
Bei der PEA habe ich
ein eigenes Büro mit Sekretärin und einen Wagen mit Fahrer. Für das
Netzplanungstraining wähle ich die Stadt Chiang Mai. Eine Sachbearbeiterin
besorgt mir ein Apartment am Central Plaza mit einem riesigen Wohn- und
Esszimmer, vier Schlafzimmern mit Bädern, von dem eines als Arbeitszimmer
eingerichtet ist, einer großen Küche, vier Balkons und einem Mädchenzimmer. Nach fünf
Wochen ziehe ich um, kaufe das Notwendigste an Geschirr und fühle mich wohl. Doch obwohl
wir oft miteinander telefonieren, merke ich erst hier, wie sehr du mir fehlst.
Im April bin ich mit vielen PEA-Führungskräften drei Tage lang in Hua Hin zur
Projektplanungs-Tagung. Noch in der Nacht fliege ich
nach Hamburg und wir feiern wie im Rausch unser Wiedersehen. Elf Wochen waren
wir noch nie getrennt. Nach zwei Wochen fliegen wir gemeinsam nach Bangkok und
bald kaufen wir ein: Tisch- und Bettwäsche, Geschirr und Besteck, Korbmöbel
für den Balkon, Leuchten und viele Kleinigkeiten, die unsere Wohnung gemütlich
machen. Beim nächsten Besuch in Chiang Mai nehmen wir hübsche Handwebstoffe
mit, die die scheußlichen Gardinen im Wohnzimmer ersetzen.
Zweimal sind wir beide privat in Pattaya
im Royal Garden Resort. An einem Abend veranstaltet das Hotel ein
Open-Air-Buffet im Garten vorzüglich zubereitetem Seafood, wohlschmeckenden
Fleischspezialitäten und als Dessert köstlichen Früchten und Süßigkeiten.
Nach dem Essen spielt die kleine Thai-Kapelle Tanzrhythmen und wir genießen
es, nach langer Zeit wieder miteinander zu tanzen. In der Nacht setzen wir diese
herrliche Gemeinsamkeit noch lange fort.
Immer wieder bewundern wir die tiefe Frömmigkeit der Thais. Wir sehen junge
Paare Hand in Hand in den Tempel kommen, vor dem Buddha knien und beten. Als wir
uns mit seiner Lehre beschäftigen, stellen wir erstaunt fest, dass er schon 600
Jahre vor Christus einen großen Teil von dessen Predigten vorweg genommen hat.
EinAls Kurzzeitexperten für den Netzbetrieb habe ich Heiner Schüchler gewählt,
der früher Netzbezirkleiter war. Wir laden ihn und Frauke nach Hause ein. Durch
die lange gemeinsame Arbeit entsteht eine nette Atmosphäre, so dass wir spontan
beschließen, uns zu duzen. Am ersten Weihnachtstag kommt Andreas mit seiner
Familie zu Besuch. Ich habe Urlaub und wir zeigen ihnen die Stadt.
1998
Das Songkhran-Fest und meinen Geburtstag kann ich mit einem
Aufenthalt in Chiang Mai verbinden. An
meinem Geburtstag laden wir die beiden Thai-Partner zum Essen auf einem
Restaurantschiff ein. Freitag früh fliegen wir zurück, ich arbeite im Büro
das liegen Gebliebene auf, während du die Sachen packst. Abends fliegen wir
nach Penang zu einem zweiwöchigen Malaysia-Urlaub. Vier Tage bleiben wir auf
der Insel und essen an einem Abend einen köstlichen Hummer in einem kleinen
Restaurant am Ende der Welt. Mit dem Bus fahren wir nach Kuala Lumpur, wo wir fünf
Tage bleiben. Die letzte Station ist Melakka. Nach drei Tagen am Meer fliegen wir nach Bangkok zurück.
Am 8. 5. fliegen wir nach Deutschland, wo ich eine Gruppe Thais betreue. Am 4. Juni
fliege ich wieder nach Bangkok, während du noch eine Weile in Hamburg bleibst.
Kyria ist unversehens schwanger geworden, wir wollen sie und Leonard im August
besuchen. Im Dreieck tauschen wir untereinander und mit ihr E-Mails aus.
Am 28. 7. kommst du an und wir feiern unser stürmisches Wiedersehen, kaum dass
wir in der Wohnung sind. Erst spät merken wir, dass wir Hunger haben. Am nächsten
Abend geht der Flug nach Seattle. Kyria und Leonard zeigen uns am
Wochenende die Umgebung.
Der erste Tag im Mietwagen führt uns beide zum vor einigen Jahren explodierten
Mount St. Helens .
Über die Golden Gate Bridge fahren wir nach San Francisco. Vier Tage bleiben
wir in dieser Stadt, besichtigten das Chinesenviertel und Fisherman’s Wharf.
Nach einem Abstecher in das hübsche Sacramento mit seinem Westernflair bleiben
wir vier Tage im Kings Canon und Sequoia National Park. An einer abgelegenen
Straße sehen wir eine Bärin mit ihrem Jungen. Eine Nacht verbringen wir bei
Santa Barbara, wo der Pazifik so warm ist, dass wir zum ersten Mal schwimmen können.
In Los Angeles sind wir enttäuscht von der sterilen ausgestorbenen Innenstadt,
bis wir den großen lebendigen mexikanischen Bezirk entdecken. Nach zwei Tagen
fliegen wir nach Seattle und sind eine Woche mit Kyria und Leonard auf der
Olympic-Peninsula unterwegs. Wir zelten an kleinen Seen im Nationalpark, wandern
und steigen auf Berge, es ist eine schöne Naturreise mit den beiden. Am 6. 9.
landen wir wieder in Bangkok.
Bei der Einweihung des von der GTZ gestifteten Trainingszentrums gehörst du zu
den Ehrengästen. Die GTZ stellt Geld für das nächste Jahr bereit, von dem ich
mir einen Anteil sichern will. Ich verfasse einen ausführlichen Bericht für
die PEA, der neben den Ergebnissen Empfehlungen enthält, und schreibe den
Abschlussbericht für die GTZ, in dem ich für die weitere Arbeit eine
Kostenbeteiligung vorschlage.
Anfang November kommen Heiner und Frauke, und am Wochenende besuchen wir vier
den Angkor Wat in Kambodscha. Es ist ein gewaltiger Eindruck, der alle Tempel
dieser Region in den Schatten stellt. Was hier vor 1.000 Jahren an schönen und
mannigfaltigen Reliefs geschaffen wurde, ist einzigartig.
Vor einer Reihe von Führungskräften präsentiere ich meinen Bericht. Sie sind
so davon angetan, dass ich als erste Aufgabe des Zusatzauftrages eine Präsentation
vorbereiten soll. Abends gebe ich meine Abschiedsparty im Dairy Queen. Reden
werden gehalten und ich antwortete, dass ich die zwei Jahre als i-Punkt auf
meiner Berufslaufbahn ansehe. – Da ich noch Urlaub habe, endet meine Tätigkeit
am 14. Dezember. Am nächsten Tag fliegst du nach Seattle, wo Kyria in diesen
Tagen ihr Kind erwartet und du ihr helfen willst. Das Apartment haben wir bis
Mitte Januar.
Seattle, den 21. 12. 98
Hallöchen, mein Lieber!
W
Mag sein, dass der Weihnachtsmann Babys verteilt, der Klapperstorch würde sich
die Füße abfrieren. Das Baby hat noch keine Lust. ... Der Flug nach Vancouver
war so gut wie nie zuvor, 1. Klasse statt Business. .... Dafür hatten wir nach
Seattle eine abenteuerliche Kiste mit Beulen und undichten Schweißnähten. –
Ganz liebe Grüße, Dir, Ernst-Günther. Ich telefoniere, wenn anderes nicht möglich
ist. Herzlich, Deine Karin
Bangkok, den 30. 12. 1998 Hallo, meine liebe Karin
W
nett, mal wieder etwas von Dir zu lesen, nachdem es am Freitag schon schön war,
Deine Stimme zu hören. Ich sortiere die Sachen für Hamburg, Bali, für hier
bei der PEA und den Mülleimer. Heute kommen die Umzugskartons. ... Sei ganz
herzlich gegrüßt und geküsst, meine Liebe, ich freue mich schon unbändig,
dass Du in elf Tagen wieder bei mir bist, Dein Ernst-Günther
Silvester wird Kyrias Tochter Aiyana geboren.
1999
Aus dem Anschlussauftrag erreiche ich neun Wochen Tätigkeit.
Die ersten fünf Wochen lege ich unmittelbar hinter unsere sechswöchige
Indonesien-Reise, so dass wir zwischendurch nicht nach Deutschland müssen. Ich
stelle Arbeitskreise mit vorbereitenden Aufgaben zusammen und beginne den
Kriminalroman „Jade und Diamanten“, der hier im Lande spielt. Am 11. 1.
kommst du zurück und wieder genießen wir unsere Gemeinschaft. Am 12. ist die
offizielle Farewell-Party der PEA für mich.
Am 15. geben
wir die Wohnung zurück und fliegen für eine Woche in ein Strandhotel auf Bali.
Von dort aus machen wir eine einwöchige Tour auf Nordsumatra mit. Besonders
eindrucksvoll ist der Besuch einer Orang-Utan-Station, wo wir die Fütterung
wild lebender „Waldmenschen“ beobachten können. Gleich danach beginnt eine
zweiwöchige Tour über fünf Inseln. Höhepunkte sind der buddhistische und der
hinduistische Tempel bei Yogjakharta und eine zweitägige Flussfahrt auf
Kalimantan mit Besuchen abgelegener Dörfer. Dann folgt eine einwöchige Tour über
Bali. Wir sehen einen riesigen Hindutempel, die Künstlerkolonie in Ubut und
schwimmen im Meer. Der Höhepunkt ist eine Schlauchbootfahrt auf einem mäßig
wilden Fluss.
Weil wir die kleinen Sundainseln noch sehen wollen, buchen wir für
die letzte Woche die Landtour. Eindrucksvoll ist nur die Insel Komo mit ihren
Riesenwaranen, von denen uns einer direkt über den Weg läuft.
Ostersamstag landen wir in Hamburg, Am 21. Juni steigen wir abends in den Autozug nach Lörrach, um
unsere lang ersehnte Frankreichreise anzutreten. Über die
Route Napoleon kommen wir an den Lac de Ste. Croix und zelten dort zwei Tage.
Wie vor 18 Jahren fahren wir die Schlucht des Verdon entlang und bewundern die
gewaltigen Felsformationen. Drei Tage verbringen wir im Luberon und frischen in
den Bergdörfern alte Erinnerungen auf. Besonders der Glockenturm in Lacoste,
den wir beide vor 18 Jahren gemalt haben, gefällt uns wieder. Über Saintes, Cognac und Nantes schlagen wir uns
an die Loire durch. Wir zelten insgesamt acht Tage an drei verschiedenen Stellen
und sehen uns viele der schönen Schlösser und Städte an. Am meisten
beeindruckt uns das Schloss Chenonceau, in dem Diane von Poitiers mit ihrem
Geliebten Henri II gelebt hat, bis er bei einem Turnier versehentlich getötet
wurde. Über Le Mans, wo du mich vor einem Auffahrunfall bewahrst, machen wir
einen langen Schlag nach s’Hertogenbosch in Holland und weiter über Gronau
nach Hause.
Ende September fliegen wir wieder nach Bangkok und ich präsentiere die
Ergebnisse der Arbeitsgruppen. Zu deinem Geburtstag fahren wir nach Pattaya,
ruhen uns aus, essen vorzüglich auf der Terrasse des Nang Nual und besuchen die
Transvestitenshow. Ich staune über die eindeutig weiblichen Formen mancher
Darsteller(innen) und frage mich, welchen Geschlechts sie nun eigentlich sind.
Das Gespräch darüber verführt uns zu einer innigen Nacht. Am 1. November sind
wir wieder in Hamburg. Meine Thailand-Einkünfte verteilen wir an die vier
Kinder zum Erwerb eigener Häuser.
4. Voneinander scheiden Seitenanfang Literaturverzeichnis
2000
Mitte März klagst du über wiederkehrende Schmerzen im
Bauch. Der Arzt stellt per Ultraschall Wasser im Bauch fest und schickt dich ins
Krankenhaus. Am Wochenende bekommst du Urlaub und wir haben noch einmal
Gelegenheit, uns ganz innig nahe zu sein. Da wissen wir noch nicht, dass es das
letzte Mal ist. Am 29. 3. wirst du operiert. Zunächst ist nur ein Nabelloch
geplant, um nachzuschauen. Doch als du dich abends noch immer nicht gemeldet
hast, fahre ich in die Klinik. Du bist noch im Aufwachraum, kaum ansprechbar.
Ich begleite dich in dein Zimmer und bleibe eine Weile bei dir, bis du wieder
einschläfst. Am nächsten Tag komme ich gerade zu dir, als die Ärztin dich
informiert: Ovarialkarzinom; Eierstöcke, Appendix und Netz entfernt, doch
weiterhin Befall auf Darm und Bauchfell. Sieht bösartig aus. Sie planen eine
Chemotherapie. Du bist ziemlich niedergedrückt, ich erzähle dir von vielen
geheilten Krebsfällen bei rechtzeitiger Entdeckung. Doch ist es noch
rechtzeitig?
Nach der zweiten Chemotherapie sind deine Blutwerte so schlecht, dass
weitere Chemotherapie unmöglich. ist. Ein Kapselpräparat wird empfohlen.
Ende Juni hast du die erste Serie Kapseln gut vertragen,
die Blutwerte sind brauchbar. Ich überarbeitete meinen Roman „Die unendliche
Kostbarkeit der Frauen“ und gebe ihm die Widmung „Für Karin, die mir das
Kostbarste auf der Welt ist“. Dann lasse ich das Buch bei BoD drucken und
verschenke es an Freunde und Kunden.
Wir kaufen neue Türen, Tapeten, Bodenfliesen und Leuchten für den Flur. Ich
lege die Fliesen nach einem Muster, das ich auf dem PC entworfen hatte, und du füllst
die Fugen. Die neuen Türen werden eingebaut und die Wände tapeziert. Zuletzt
kaufen wir Teppiche für den Flur. Fast das ganze Erdgeschoss ist neu und sieht
gut aus. Im Oktober ist die letzte Serie Kapseln durch. Du fühlst dich gut,
Blutwerte und Tumormarker sind in Ordnung. Es sieht so aus, als ob du den Krebs
besiegt hast. An deinem 65. Geburtstag fahren wir in die Stadt, kaufen ein und
essen nett zu Mittag. Die große Feier findet am Sonntag danach statt. Bis auf
Kyria kommen alle Kinder und es wird ein ganz festlicher Tag.
Im November buchen wir drei Wochen auf Gran Canaria. Der Arzt stimmt zu. Als wir
nach langem Flug und einer wilden Busfahrt im Hotel ankommen, fühlst du dich
nicht gut, doch am nächsten Tag ist es besser. Wir unternehmen einiges, gehen
schwimmen und laufen viel, doch dein Zustand wird schlechter. Du hast
Verdauungsprobleme und schließlich gehen wir zum Arzt. Wir ahnen beide, dass
der Krebs wieder (immer noch?) aktiv ist. Die Befunde sind widersprüchlich, die
Verständigung ist miserabel, so beschließen wir, eine Woche früher nach Hause
zu fliegen. In Hamburg schickt dich der Arzt nach Eppendorf, wo Wasser im Bauch
und damit eine Wiederkehr des Tumors festgestellt wird. Drei Liter
Bauchwasser werden abgepumpt.
Über Weihnachten und Silvester/Neujahr bekommst du Urlaub. Barbara kommt ein paar
Tage mit ihrer Familie, und Andreas ist mit Frau und Söhnen am Silvesterabend
bei uns. Als wir auf das neue Jahr anstoßen und uns küssen, wünschen wir uns
noch viele schöne Jahre miteinander, aber jedem von uns beiden steckt der
Zweifel wie ein Stachel im Herzen.
2001
Ich habe meinen Roman „Jade und Diamanten“ überarbeitet
und freue mich, dass du ihn abschließend durchsiehst, so dass ich ihn zum Druck
geben kann.
Wir wissen, dass wir vorsorgen müssen und lassen von einem Notar ein
neues Testament verfassen. Wie in unserem 35 Jahre alten handschriftlichen
Testament soll ich zunächst Alleinerbe sein, doch ich lasse hinzufügen, dass
ich es nicht zu Ungunsten der Kinder als Nacherben verändern darf. So sind
eventuelle Dummheiten ausgeschlossen. Am nächsten Tag kaufst du Bücher und
Musikkassetten für die Kinder und genießt das Promenieren im Sachsentor.
Am 10. 3. übergibst du dich ständig. Die Waage zeigt nur noch 43 kg. Ich
habe Angst, dass du verhungerst und bringe dich ins Bethesda-Krankenhaus. Du erhältst
sofort eine Zuckerinfusion, sagst aber ganz klar, dass du lebensverlängernde Maßnahmen
ablehnst. Du weißt wohl besser als ich, dass du nicht mehr zu heilen bist. Die
Ärzte geben dir nur noch wenige Tage. Du bekommst ein Einzelzimmer und ich
alarmiere die Kinder.
Wir beide wissen, dass du nicht mehr lange zu leben hast. Ich danke dir für
deine grenzenlose Liebe, mit der du mein Leben schön gemacht hast, und für die
vielen wundervollen Jahre, die wir miteinander hatten. „Mach dir noch ein schönes
Leben, wenn ich nicht mehr da bin“, sagst du und streichst mir über die
Haare. Als ich dich unter der Nasensonde küsste, taucht bei uns die Frage nach
unserem ersten Kuss auf. Zu Hause wälze ich den dicken Ordner mit Briefen aus
den ersten 1½ Jahren unserer Liebe und stelle fest, dass dieser Briefwechsel
das Entstehen unserer Gemeinschaft ganz wunderbar wider spiegelt. An den nächsten
Tagen lese ich dir alle Briefe und die Tagebücher unserer gemeinsamen Reisen
vor. Um meine Trauer zu kompensieren, beginne ich, die Briefe und Tagebücher
aufzuschreiben. Vielleicht wird einmal ein Buch daraus, an dem unsere Kinder und
nahen Freunde Interesse haben könnten.
Kyria kommt und weist darauf hin, dass zur Ernährung neben Zucker und Salz
auch Eiweiß und Fett gegeben werden müssen. Wir können dich überzeugen, dass
dies eine Lebensverbesserung ist, und von nun an bekommst du hochwertige Nahrung
durch einen Halsvenenkatheter.
Du wirst entlassen und liegst in einem Pflegebett im Wohnzimmer, damit du an
unserem Leben teilhaben kannst. Der Pflegedienst betreut dich zweimal täglich,
alles andere erledige ich. Abends lese ich dir die Liebesgeschichten aus dem
Buch „An Nachtfeuern der Karawan
Serail“ vor. Du malst deine alten Aquarelle fertig und beginnst auch neue
Bilder.
Zu unserem Hochzeitstag kaufe ich dir einen Rosenstrauß. Wir feiern diesen Tag
so bewusst wie noch nie, außer vielleicht bei der Trauung selbst.
Du fragst
den Arzt, wie es weiter geht, was er natürlich nicht klar beantworten kann. Er
lässt aber keine Zweifel, dass du mit dem Ende rechnen musst. Wir beide
sprechen später noch weiter darüber. Ich sage dir, dass diese Zeit, wo ich
dich pflegen kann, für mich sehr wertvoll ist, weil ich dir damit ein wenig von
der unendlichen Liebe zurück geben kann, mit der du mich während unseres
langen gemeinsamen Lebens so reich beschenkt hast. Sicherlich ist diese Art zu
leben auch für mich schwieriger. Aber es ist eine ganz neue, wertvolle
Erfahrung.
Ich frage dich, ob du Lust auf ein bisschen Zärtlichkeit hast. Erfreut stimmst
du zu und kommst mit zusätzlichen Morphiumpflastern ins Schlafzimmer. Einen
langen Abend fühlen wir wieder unsere Körper aneinander und tun uns
gegenseitig Gutes. Ich spüre, dass auch du, meine Geliebte diesen wundervollen
Abend mit allen Sinnen genießt, und du bestätigst es beglückt, als ich für
deine Zärtlichkeit danke. „Vielleicht können wir miteinander kommunizieren,
wenn ich nicht mehr bin“, flüsterst du. „Schau nur immer zu unserem ,W’
hoch, ich schau zu dir hinunter.“ Ich kann nur mühsam die Tränen nieder kämpfen.
Du fragst den Arzt, welche Möglichkeiten es gibt, unerträgliche
Qualen abzukürzen. Er sagt, dass er nichts unternehmen darf, was aktiv dein
Leben verkürzt. Es steht dir aber frei, die künstliche Ernährung abzulehnen,
wodurch du langsam ohne Qual verhungern würdest. Ich überzeuge dich, dass du
dich für diese Maßnahme selbst entscheiden musst, aber im Moment noch keinen
Grund dazu hast. Ich sage dir, dass du die
Kinder über deine Absicht informieren musst und du sprichst mit Andreas und
telefonisch dann auch mit den anderen darüber.
Am Abend kommt eine liebevolle, ergreifende Mail von Kyria. Ich muss schlucken,
als ich sie beim Öffnen lese, und auch in deinen Augen sehe ich nach langer
Zeit wieder Tränen:
„Liebe Mutti, hier das Gedicht, von dem ich Dir erzählt
hatte:
Do not stand at my grave and weep,
I am not there. I do not sleep.
I am a thousand winds that blow.
I am the diamond glint on snow.
I am the sunlight on ripened grain.
I am the gentle autumn rain.
When you wake in the morning hush,
I am the swift, uplifting rush
of quiet birds in circling flight.
I am the soft starlight at night.
Do not stand at my grave and weep.
I am not there. I do not sleep. ...
Ich werde mir vorstellen, dass der Wind, der mich sanft umspielt, von Dir geschickt ist, dass der wärmende, wohltuende Sonnenstrahl Dein Lächeln ist und dass Du in dem nächtlichen Sternenglanz gegenwärtig bist. Mutti, Du warst mir so vieles. Nach Deinem Tode wirst Du mir zusätzlich die Sonne, die Sterne, der Wind und alles Schöne, Weiche und Warme in der Natur sein. Ich hoffe, Du lächelst mir manchmal aus dem Himmel zu! ... Deine Kyria“
Du willst jetzt die künstliche Ernährung abbrechen. Am Abend sprechen wir
lange über diesen Entschluss. Ich gebe dir zu bedenken, dass dein Zustand sich
ja nicht wesentlich verschlechtert hat, seit du nach Hause gekommen bist. Du
hast den Eindruck, ich will dich von deinem Entschluss abbringen und bittest
mich, dich nicht zu quälen. Nur langsam kann ich dir klar machen, dass ich dich
um deinetwillen dazu bringen will, eine derart gravierende Entscheidung sorgfältig
zu erwägen. Doch ich muss begreifen, dass dich deine Stärke verlässt. Du
kannst die ständigen Schmerzen und Beeinträchtigungen der Lebensführung nicht
mehr ertragen.
Pastor Lundius spendet uns bei herrlichem Sonnenschein auf der Terrasse das
Abendmahl. Wir haben es lange nicht mehr zusammen gefeiert, aber genau so, wie
wir es zu Beginn unserer Liebe und vor allem nach unserem vollkommenen
Einswerden als göttliche Besiegelung unseres Bundes angesehen haben, brauchen
wir es jetzt als Abschied voneinander unter Gottes Schirm. Bewegt reichen wir
uns das Brot und den Traubensaft als Symbol von Gottes Liebe zu uns. Wir haben
sie während unserer ganzen Gemeinschaft in unserer Liebe widergespiegelt gefühlt,
und wenn diese jetzt physisch zu Ende gehen sollte, so wird sie im Geiste als
wunderschöne Erinnerung bestehen bleiben. Nach dem abschließenden Segen küsse
ich dich und erzähle dem Pastor von unserem Abendmahl in Saverne und seinem
Hintergrund.
Nach vier Tagen geht die Spuckerei wieder los. Es ist ein warmer Tag, du gehst
gleich nach draußen. Barbara und Lydia sind bei dir. Der Arzt sagt, deine
Blutwerte seien so schlecht, dass du nicht mehr lange zu leben hast. Spät um
21:30 bringe ich dich von der Terrasse ins Bett. Du musst dich fast ständig übergeben.
Ich halte dir den Kopf und die Schüssel. Doch dann verlassen dich die Kräfte
und ich kann deinen Kopf nur noch ins Kissen legen. Du verlierst das
Bewusstsein. Der Arzt spricht von beginnendem Kreislaufversagen und gibt dir
eine Spritze dagegen. Ich küsse dich noch einmal, zünde Kerzen an, spiele dein
Musikstück und halte deine Hand. Das Leben mit dir war so schön! Als der Arzt
nach einer Stunde wieder kommt, sagt er, du seiest im Koma, fühltest nichts
mehr und würdest wohl in der Nacht einschlafen. Ich lege mich auf das Sofa und
lausche auf dein schweres Atmen. Irgendwann falle ich in einen unruhigen Schlaf.
Am 28. 6. wache ich auf, und höre dich noch atmen. Um 11:24 wird
dein Atem unregelmäßig, dann setzt er ganz aus. Du hast deinen Lebensweg
beendet, der so viele schöne Stationen hatte, aber zuletzt nur noch Leiden war.
Ich drücke dir die Augen zu, dann sitzen wir noch eine Stunde bei dir und
halten still deine Hände, bis der Arzt kommt und offiziell deinen Tod
feststellt.
Am 4. 7. ist der Sarg schön geschmückt, um ihn herum viele Blumensträuße und Kränze.
Die Trauergemeinde ist groß, neben vielen Freunden und Verwandten ist fast der
ganze Schleusenhörn gekommen. Zum Eingang wird die Gitarren-Romance aus „Jeux
Interdits“ gespielt, die wir uns beide für den Trauergottesdienst gewünscht
haben, als wir sie auf Kyrias CD hörten. Nach dem Friedensgruß singen alle
„Gloria sei dir“, das du aus dem Gesangbuch ausgesucht hast. Nach der Aussegnung singt
Lydias Gospelchor den Irischen Segenswunsch, den sie auch schon an deinem Bett
gesungen haben. Beim Refrain
„und bis wir uns wieder sehen,
möge Gott seine schützende Hand über dich halten.“
muss ich schlucken, denn ich höre darin deine
Worte, die du mir zum Abschied sagst.
Nachdem der Sarg langsam ins Grab gesenkt worden ist, biete ich dir meinen
letzten Gruß in dieser Welt:
„Karin, Geliebte, während unseres ganzen gemeinsamen Lebens habe ich dich als ein unbegreifliches Geschenk Gottes für mich angesehen. Doch dass dieses Geschenk stets so wunderbar und einzigartig war, ist allein das Werk deiner Liebe. Sie hat mein Leben so schön und reich gemacht, wie es gar nicht schöner hätte sein können. Ich möchte ein Gedicht von Friedrich Halm zitieren, das ich dir im Mai 1957 in einem Brief mit geschickt habe:
Mein Herz, ich will dich fragen, was ist
die Liebe, sag?
,Zwei Seelen, ein Gedanke, zwei Herzen und ein Schlag!’
Woher kommt denn die Liebe? ,Sie kommt nicht, sie ist da!’
Und sprich, wie schwindet Liebe? ,Die war’s nicht, der’s
geschah!’
Was ist denn reine Liebe? ,Die ihrer selbst vergisst!’
Und wann ist sie am tiefsten? ,Wenn sie am stillsten ist!’
Wann ist die Lieb’ am reichsten? ,Reich ist sie, wenn sie
gibt!’
Und sprich, wie redet Liebe? ,Sie redet nicht, sie liebt!’
Du hast oft genug deiner selbst vergessen und deine
Interessen hintan gestellt, um uns Liebe zu geben. Und du hast nie darüber
gesprochen, sondern nur geliebt. Vor 45 Jahren haben wir das Sternbild der
Cassiopeia für uns annektiert, das ein großes ,W’ am Himmel zeigt. Es war
uns das Symbol für das ,Wir’, in dem sich unsere beiden ,Ichs’ vereinigen
sollten und vereinigt haben. Immer wenn wir getrennt waren, schauten wir zu
diesen Sternen auf und wussten, der andere tut das Gleiche. Die Cassiopeia war
uns der Spiegel, in dem wir uns sahen. Vor einigen Wochen sind wir uns noch
einmal ganz nahe gewesen, so weit das mit deinen Schläuchen möglich war.
Danach hast du mir ins Ohr geflüstert: ,Vielleicht können wir ja miteinander
kommunizieren, wenn ich nicht mehr bin. Schau nur immer zu unserem ,W’ hoch.
Ich schau zu dir hinab.’
Hab Dank, Geliebte, für alles! Ich wünsche dir, dass du glücklich bist, wo du
jetzt bist. Du bist mir jetzt ein Stück Weges voraus. Bis wir uns wieder sehen,
möge Gott seine schützende Hand über uns halten. Tschüss, meine Liebe,
mach’s gut!“
Dann werfe ich eine Rose und eine Schaufel Sand auf deinen Sarg und wende mich
ab, während die andern das Gleiche tun. Ich merke kaum, dass sie mir und den
Kindern kondolieren.
Im „Hotel am Deich“, rollt Bringfried vor den Gästen dein Leben auf. Er
schildert, wie er uns mehr zufällig als bewusst zueinander geführt hat und
beschreibt aus unseren Briefen, wie dieses „Zueinander“ langsam und stetig
enger wurde. An Hand von deinem Telegramm nach meinem Unfall:
= SEI TAPFER KOMME SAMSTAG = KUSS KARIN +
zeigt er, dass du mich immer unverbrüchlich geliebt hast. Die wunderbare erste Reise ins Elsass nenne er ohne Scheu „Hochzeitsreise“, und ich bin ihm dankbar für seine Worte: „Nach dem Kirchenbrauch mag sie, horrible dictu, vorzeitig gewesen sein, für euch beide geschah sie genau zur rechten Zeit.“ Immer wieder schildert er deine Sanftmut, Fröhlichkeit und Entschlossenheit, die dich zu einer so wertvollen Partnerin, Mutter und Geliebten gemacht hat. „Selbander“ nennt er die zwanzig Jahre unserer Freiheit, zu zweit die Welt zu erforschen. Vom Abendmahl in Saverne bis zu jenem letzten auf der Terrasse schlägt er die Brücke zu den Jahren deines Leidens.
Erinnerung Frankreich 10. 7. – 14. 8 01
Sechs Tage nach der Beerdigung habe ich alles Notwendige
erledigt und fahre nach Frankreich. Von unserem ersten bis zum letzten
gemeinsamen Urlaub zieht sich ja eine Perlenkette wunderbarer Erlebnisse durch
das ganze Land, und die Erinnerung daran soll mir helfen, die Gedanken an dein
qualvolles Sterben zu überwinden. Und ich will alleine sein. Ich bin immer ein
Steppenwolf gewesen und du warst der einzige Mensch, der mich gezähmt hat und
mit dem ich unbegrenzt und problemlos zusammen leben konnte.
In der schönen alten Abteikirche St. Peter und Paul in Neuwiller-les-Saverne,
die wir uns vor 44 Jahren nach unserer ganz privaten Hochzeitsnacht ausgiebig
angesehen haben, zünde ich eine Kerze für dich an. Noch lange sitze ich in der
Kirchenbank, danke Gott für die wundervolle Zeit mit dir und bitte um Segen für
dich und für mein weiteres Leben. Niemand von uns weiß ja, wo du dich jetzt
befindest. Aber ich bin sicher, dass deine grenzenlose Liebe, mit der du mein
und unser aller Leben reich und schön gemacht hast, dir vielfach zurück
gegeben wird in einem Leben voller Glück und Seligkeit, das wir erst schauen
werden, wenn auch wir unsere irdischen Augen für immer schließen.
Im provencalischen Lacoste sitze ich eine Weile an der Stelle, von der wir vor
20 Jahren beide den schönen Glockenturm gemalt haben. Ich finde sogar die
versteckte kleine Kräuterwiese wieder, wo du mir nach zärtlichem Spiel einen
Lavendelkranz geflochten hast. Ich lege mich in die Sonne und lasse meine
Gedanken zurück schweifen.
Immer wieder arbeite ich die Erinnerungen, Brief- und Tagebuchausschnitte durch,
die ich während deiner Krankheit aufzuschreiben begonnen habe. Ich gebe ihnen
den Titel „Leben mit Karin“, denn du wunderbare, großartige, liebevolle
Frau wirst immer in mir weiter leben in den vielfältigen Erinnerungen an die
herrliche Zeit mit dir.
Allmählich begreife ich, dass dein Sterben genau so großartig und voller Würde
war wie dein schon sehr erfülltes Leben, wenn dies auch gut noch zwanzig
weitere Jahre hätte dauern können: Als du dein Leiden nicht mehr ertragen
konntest, hast du mit unbegreiflicher Kraft den Zeitraum deines Todes selbst
bestimmt, die Trauerfeier geplant und uns die Möglichkeit gegeben, von dir
Abschied zu nehmen und dir zu danken. Deshalb kann ich dieses voraus sehbare,
selbst bestimmte Sterben leichter bewältigen als Dietlinds Unfalltod damals,
obwohl unsere Gemeinschaft unvergleichlich enger war und vielfach länger währte.
Als ich auf dem Rückweg an Landstuhl vorbei komme, schließt sich der Kreis
meiner Reise, denn mir kommt die Idee, Dietlinds Grab zu besuchen, in dem jetzt
auch ihre Mutter liegt. Ich stelle einen schönen Blumenstrauß darauf und
erinnere mich an zwei bewegende Momente: Hier habe ich Dietlind, schon im Sarg,
zum Abschied geküsst und hier habe ich drei Jahre später dich geküsst, zum
Dank, dass du Dietlind als ein Stück meiner Erinnerung akzeptiert hast. Ob ihr
beiden Frauen, die ich so sehr geliebt habe, euch jetzt begegnen werdet?
Allmählich finde ich auf der Reise in die Vergangenheit genug Kraft, die
Gegenwart ohne dich zu ertragen, wenn ich dir auch noch ständig etwas Schönes
zeigen oder Interessantes erzählen will und dann schmerzlich merke, dass du
nicht mehr da bist.
Vergangenheit und Gegenwart münden in die Zukunft, die für mich vielleicht
noch zehn oder fünfzehn Jahre dauern wird. „Mach dir noch ein schönes
Leben“, hast du gesagt. Nun liegt diese Zukunft vor mir wie ein
unbeschriebenes Buch. Ich bin bereit, die Seiten zu füllen und gespannt auf den
Inhalt.
Da weiß ich noch nicht, dass schon nach 13 Monaten, am 20. 9. 2002, Rosemarie
mir eine neue wundervolle Liebe schenken wird.