Leseproben aus "Netzleittechnik", Teil 1, Grundlagen
Aus Kapitel 1, Netze Hauptseite
Jedes Netz, ob Spinnen-, Fischer-, Einkaufs- oder Versorgungsnetz ist aus Knoten und Streben (auch Zweige genannt) aufgebaut. Alle Streben treffen sich in Knoten.
In Versorgungsnetzen bilden Sammelschienen die Knoten und Streben verbinden sie:
Kupplungen die Knoten innerhalb einer Schaltanlage,
Leitungen die Knoten in verschiedenen Schaltanlagen gleicher Spannung,
Transformatoren die Knoten verschiedener Schaltanlagen unterschiedlicher Spannung.
Sammelschienen, Kupplungen, Leitungen und Transformatoren werden Netzkomponenten genannt, weil sie als Knoten und Streben die verknüpfbare Struktur der Stromversorgungsnetze bilden, die mit den möglichen Stellungen der zwischen ihnen vorhandenen Schaltgeräte als potenzielle Topologie bezeichnet wird. Die kleinsten physikalischen Bausteine des Netzes, wie z. B. Schaltgeräte werden international als Objekte bezeichnet. Sie bilden die Verknüpfungspunkte in und zwischen den Netzkomponenten. Ihr aktueller Schaltzustand macht aus der potenziellen eine aktuelle Topologie. Das ist die Netzkonfiguration, die sich aus den Netzkomponenten und den zwischen ihnen eingeschalteten Schaltgeräten ergibt. |
In Versorgungsnetzen müssen verschiedene Arten von Zuständen unterschieden werden:
Schaltzustände einzelner Objekte,
Betriebszustände von Netzkomponenten und Partialen,
Versorgungszustände von
Teilnetzen, mögliche Zustände sind:
- unterbrechungsfrei gesichert
versorgt (hot standby),
- unterbrechbar gesichert
versorgt (cold standby),
- ungesichert versorgt (verletzbar),
- nicht versorgt (gestört).
Für Versorgungsunterbrechungen müssen zwei Bedingungen gleichzeitig erfüllt sein:
ungenügende Redundanz,
Nichtverfügbarkeit einer Netzkomponente.
Nichtverfügbarkeiten von Netzkomponenten dürfen nicht mit der Nichtverfügbarkeit der Versorgung beim Kunden verwechselt werden. Sie können zwei verschiedene Ursachen haben:
Geplante Arbeiten für Instandhaltung oder Bau: Die Nichtverfügbarkeit der Netzkomponente dauert vom Beginn bis zum Ende der Arbeit.
Störungen mit anstehendem Fehler: Die Nichtverfügbarkeit der Netzkomponente dauert vom Störungsbeginn bis zum Ende der Reparatur.
Netze können radial oder redundant strukturiert sein (potenzielle Topologie).
In einer radialen (strahlenförmigen) Struktur führt jede Nichtverfügbarkeit, egal ob für planmäßige Arbeiten oder durch Störung zur Unterbrechung der Versorgung.
In einer redundanten (mehrwegigen) Struktur kann der Kunde über mindestens zwei Wege versorgt werden.
Eine redundante Struktur ermöglicht folgende Betriebsweisen (aktuelle Topologie):
Im cold-standby-Betrieb ist nur einer von mehreren möglichen Versorgungswegen zum Kunden durchgeschaltet, ein anderer wird ohne Unterbrechung für geplante Arbeiten oder mit kurzer Unterbrechung nach einer Störung eingeschaltet.
Im hot-standby-Betrieb sind planmäßig
mindestens zwei Versorgungswege zum Kunden durchgeschaltet. Für geplante
Arbeiten oder bei einer Störung wird einer der Wege nichtverfügbar, ohne dass
die
Versorgung unterbrochen wird. Dieser Betrieb erfordert aufwendigere
Schutzeinrichtungen.
Aus Kapitel 2, Netzführung Seitenanfang Hauptseite
Vor einiger Zeit hat ein Fachmann die Netzführung treffend charakterisiert:
„Ein Stromversorgungsnetz zu betreiben ist eine ungewöhnlich umfassende Aufgabe, die außer wenigen Verantwortlichen kaum jemand wirklich voll durchblickt. Die Netzführung ... ist nur eine schmale Teilaufgabe davon und doch in sich bereits ungewöhnlich komplex ... Die Antwort auf die Frage nach (ihren) Aufgaben ... müsste lauten:
Im Rahmen eines aufgabenmäßig gegen andere abgegrenzten Unternehmens führen Menschen
eingebettet in eine meist nicht sehr flexible Unternehmensorganisation
unter dem Diktat rechtlicher, wirtschaftlicher und technischer Normen
sowie in einem gewissen Freiraum, in dem hohe persönliche Verantwortung der Handelnden erforderlich ist,
mit Hilfe komplexer leittechnischer Einrichtungen
einen vorgegebenen Netzabschnitt,
der physikalischen Gesetzmäßigkeiten gehorcht.“
Um Interessenkonflikte zwischen den wirtschaftlichen Interessen des EVU und der unabhängigen Durchleitungsverpflichtung zu beliebigen Kunden zu vermeiden, hat das Zweite Energiewirtschaftsgesetz den Netzbetreiber, und dazu gehört auch die Verantwortung für Planung und Instandhaltung, strikt von den übrigen Bereichen des EVU abgeschottet, womit vor allem der Vertrieb gemeint ist (unbundling). Das lokale Netz soll unabhängig und diskriminierungsfrei allen Versorgern der zwangsläufig angeschlossenen Kunden für die Durchleitung der Energie gegen ein Netznutzungsentgelt zur Verfügung stehen.
Der unabhängige Netzbetreiber muss laut EnWG alle Netzanlagen besitzen, in der Regel überträgt das EVU ihm das Eigentum. Zum Netz gehören alle Anlagen und Hilfseinrichtungen, die der Verteilung der elektrischen Energie zwischen Übertragungsnetz und Kunden dienen.
Folgende Aufgaben obliegen dem Netzbetreiber:
Betrieb, Wartung, Ausbau und Verwaltung der Netzanlagen,
Abschluss von Lieferantenrahmenverträgen mit allen Händlern, die Kunden im Netz versorgen, also auch mit dem EVU, zu dem er gehört,
Anschluss von Kunden beliebiger EVU an das Netz, Abschluss von Netznutzungsverträgen mit ihnen und zuverlässige Durchleitung der Energie vom Übertragungsnetz zu ihnen,
Beschaffung von Verbrauchsdaten aller Kunden und Weitergabe an die Händler,
Beschaffung von Energie zur Abdeckung der Netzverluste und Eigenverbräuche,
Bilanzierung der Einspeisungen aus Heizkraftwerken und EEG-Anlagen und Weitergabe an Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB),
Berechnung der Netznutzungsentgelte und Weitergabe an die jeweiligen Händler,
Zyklische Berichte an die Bundesnetzagentur über Störungen.
Zur Wahrung der Unabhängigkeit gehören folgende Arbeitsbereiche zum Netzbetreiber:
Netzbetrieb mit allen Mitarbeitern, deren Aufgabe das Überwachen und
Schalten in Netzanlagen ist:
- Netzleitstelle,
- Anlagenbetreuer
für die hochtechnisierten ferngesteuerten Umspannstationen,
- lokale Bezirksdienststellen mit dem mobilen Schaltpersonal, auch wenn sie
zusätzlich Anschlussarbeiten und kleine Reparaturen ausführen.
Netzplanung, Projektierung und Auftragsmanagement für Bau und Instandhaltung,
Netzzugangsmanagement, Netzanschlussverträge, Netznutzungsverträge und Anschlussmanagement für alle physikalischen Kunden,
Energiedatenmanagement mit Vertragsgestaltung, Verbrauchsdatenermittlung für alle Kunden und Datenübermittlung zu Händlern und Übertragungsnetzbetreibern.
Mit zunehmenden Personalkosten und fortschreitender Entwicklung der Übertragungstechnik wurde in den letzten Jahrzehnten die ständige Besetzung der Umspannstationen mehr und mehr durch die Fernsteuerung aus zentralen Netzleitstellen ersetzt und damit eine dritte übergeordnete Leitebene geschaffen. Damit wurde zusätzlich der Vorteil einer aktuellen Übersicht über das gesamte zu führende Netz verwirklicht.
Seit Einführung der Fernüberwachung und -steuerung haben sich die Netzleitstellen kontinuierlich von einfachen Fernsteuerstellen zu zentralen Führungsinstrumenten entwickelt, ausgestattet mit allen Einrichtungen und Fähigkeiten, um auch ausgedehnte und laststarke Netze mit großer Sicherheit zu führen:
gute Übersicht über das Netz und seine Betriebsmittel,
ausreichende Verarbeitungs- und Berechnungskapazität,
schlagkräftige Eingriffsmöglichkeiten zu den wichtigen Netzpunkten,
hoch qualifizierte und hervorragend ausgebildete Mitarbeiter.
Arbeitszeit in Netzleitstellen |
Tage |
Stunden |
Normales Jahr | 365 | 8.760 |
abzüglich: Samstage
und Sonntage |
-104
|
|
Verfügbare Arbeitszeit bei 40-Stunden Woche | 209 | 1.672 |
Schichten à 8 Stunden | 209 | |
Übergabezeit 2 x 10 x 209 min | -70 | |
Verfügbar zum Schichtdienst 8.760 : 1.602 = 5,47 Schichtgruppen | 1.602 |
Eine Leitstelle lässt sich heute nur noch mit 5,5 Schichtmitarbeitern pro Leitplatz rund um die Uhr besetzen (Tabelle). Dabei sollte auf jeden Fall in einer Tätigkeitsanalyse (Kapitel 4) die eventuelle Reduzierung der Mitarbeiterzahl außerhalb der regulären Arbeitszeit geprüft werden.
Aufgaben der Netzführung im Normalbetrieb sind:
Überwachen der Betriebsmittel,
Festlegen von Normschaltzuständen,
Planmäßige Zustandsänderungen,
Energiebezug und Lastführung,
Tagebuch, Archiv und Listen,
Ausbildung und Training,
Datenaufbereitung.
Aufgaben der Netzführung im gestörten Betrieb sind:
Primärnetz,
Anlagentechnik,
Berichte.
Aus Kapitel 3, Informationen Seitenanfang Hauptseite
Neben Materie und Energie ist Information das dritte Grundelement des gesamten Lebens auf unserer Erde (siehe Bild ). In der DNA bewahrt und überträgt sie den Bauplan des Lebens aller Pflanzen und Tiere. Ohne die Informations-Aufnahmekanäle Fühlen, Hören, Riechen, Schmecken und Sehen wäre überdies die Erde sehr viel primitiver belebt. Informiert sein erhöht den Überblick, lässt Zusammenhänge erkennen. Der Satz „Wissen ist Macht“ bringt dies klar zum Ausdruck. In einem Fachbuch heißt es: „Information ist beseitigte Ungewissheit“. |
Die häufigste Informationsart ist die Zustandsanzeige. Jedes Objekt, ob Tomate, Zwei-Euro-Stück oder PE-Kabel, besitzt eine große Zahl spezifischer Attribute (Eigenschaften), wie z. B. Farbe, Durchmesser, Gewicht oder Strom. Attribute sind dynamisch, sie können zu verschiedenen Zeiten beliebige Zustände oder Werte annehmen wie z. B. grün oder rot, 3 cm oder 1m, 50 g oder 20 kg, 16 mA oder 100 A. Zur gleichen Zeit und am selben Ort ist allerdings für jedes Attribut nur ein einziger Zustand möglich. Dagegen können die o. g. drei völlig verschiedenen Objekte in einem gleichartigen Attribut denselben Zustand haben, z. B. einen Durchmesser von 3 cm. Zustände sind ruhend vorhanden, ob sich jemand dafür interessiert oder nicht.
Nur sehr wenige Informationen bestehen aus einer einfachen Ja-Nein-Aussage (1 Bit). Wegen der Vielfalt möglicher Zustände müssen sie codiert werden. Ruhende Informationen sind oft als materielle Strukturen codiert. So ist die Farbe eines Objektes in der materiellen Struktur seiner Oberfläche hinterlegt, auch im Dunkeln. Durch Einsatz von Energie lässt sich Information kopieren und übertragen. Wenn Licht auf die Oberflächenstruktur trifft, werden nur die Wellen der dazu passenden Frequenz reflektiert. So entsteht bewegte Information, eine Nachricht. Doch damit geschieht noch keine Informationsübertragung. Dazu gehören eine Kommunikationsstrecke und ein Empfänger, der die Information aufnimmt. Kommunikation entsteht schließlich, wenn der Empfänger in der Lage ist, die Nachricht zu decodieren, also z. B. Augen besitzt, die die Lichtwellen der gesendeten Frequenz erkennen und in den richtigen Sinneseindruck umsetzen können.
Um ein Netz von zentraler Stelle zu führen, muss eine große Zahl statischer Daten über das Netz in einem Datenmodell hinterlegt sein. Bei neuen Leitsystemen ist das Datenmodell neu aufzubauen, bei dauerhaften Änderungen der Netzstruktur, Benennungen, technischen Attribute oder Codelisten ist es anzupassen.
Zustandsanzeigen und Befehle sind variable Informationen, die Stellungen und Werte aus den dynamischen Attributen der Objekte abbilden oder sie ändern wollen. In der Leitstelle werden sie im Prozessabbild hinterlegt. Zustandsanzeigen sind:
Störungsmeldungen,
Stellungsmeldungen,
Messwerte,
Zählwerte.
Netzführung ist schon im Normalbetrieb, aber vor allem bei Störungen ein komplexer Prozess, der erfolgreich nur in der logischen Reihenfolge von vier Phasen (Tabelle ) bearbeitet werden kann. Eine andere Reihenfolge ist selten erfolgreich.
Phase |
Aktivität |
1. Information |
Sammeln von Informationen |
2. Planung |
Festlegen einer Bearbeitungsstrategie |
3. Aktion |
Ausführen der geplanten Aktivitäten |
4. Kontrolle |
Erfolgskontrolle, Weitergabe von Informationen |
Mit der Führung umfangreicher Netze aus zentralen Leitstellen wächst die Flut der Informationen, die in besonderen Situationen, wie z. B. Großstörungen aufgenommen und verarbeitet werden müssen, in erhebliche Größenordnungen an. Schauer von 1 000 Meldungen in der ersten Minute sind keine Seltenheit. Auch das schnelle Erfassen eines anomalen Netzzustandes aus den Zustandsanzeigen vieler einzelner Objekte erfordert eine zeitaufwendige Konzentrationsleistung. Deshalb ist die Verdichtung, also die Zusammenfassung ähnlicher oder einander ergänzender Informationen zu Sammelinformationen im gesamten Mensch-Maschine-Interface außerordentlich bedeutsam für ein schnelles Begreifen. Die sinnvolle Zusammenfassung von fünf bis zehn Einzelinformationen zu einer Sammelinformation reduziert Informationsschauer ausreichend auf die mittlere menschliche Verarbeitungsrate von zwei bis drei Informationen pro Sekunde.
In jedem EVU ist ein einheitliches Bezeichnungssystem unerlässlich, um Missverständnisse und daraus resultierende Fehlhandlungen und Unfälle zu vermeiden. Wenn noch kein geeignetes Bezeichnungssystem vorhanden ist, sollte dieses während der Betriebsanalyse gewählt und durch die Betriebsleitung festgelegt werden.
Schaltanlage |
Netzkomponente |
Objekt |
Attribut | Zustand | |
(Station) E |
20 kV |
Trafo X |
Leistungsschalter |
(Stellung) |
ist aus |
Partial |
Jede Netzkomponente muss vom Anfang bis zum Ende denselben Namen tragen, denn sie wird in vielen Betriebsfällen als Ganzes angesprochen. Weil aber in den nicht zur Netzstruktur gehörenden Schaltanlagen und Stationen nahezu alle Schaltungen ausgeführt werden, müssen auch deren Ortsnamen geführt werden. Deshalb empfiehlt es sich, die technologischen Benennungen der Partiale aus den Namen der Anlagen und Netzkomponenten zusammenzusetzen, deren Schnittmenge sie bilden. Dadurch enthalten alle Partiale einer Netzkomponente ihren Namen.
Aus Kapitel 4, Planung von Leitsystemen Seitenanfang Hauptseite
Zahl und Umfang installierter Netzleiteinrichtungen haben während der letzten dreißig Jahre ständig zugenommen. Der Zwang zur Rationalisierung des Betriebes fiel zusammen mit einer immer leistungsfähiger und preiswerter werdenden Technik. Mit eingesparten Personalkosten ließ sich in den Anfängen ein erheblicher Anteil der leittechnischen Investitionen finanzieren. Dieser Vorgang ist weitgehend abgeschlossen. Alle Übertragungs- und Hochspannungsverteilungsnetze werden zentral geführt, Erweiterungen wären nur noch in Richtung Mittelspannungsverteilungsnetz denkbar. Angesichts des schärferen Wettbewerbs in der Energieversorgung ist jedoch kaum mit einer derartigen Entwicklung zu rechnen. Eine Tendenz zu der damit erreichbaren höheren Versorgungszuverlässigkeit ist nicht erkennbar.
Ein aktueller Grund für die Erneuerung leittechnischer Einrichtungen ist jetzt allerdings die Liberalisierung des Energiemarktes, die in hohem Maße zu Zusammenschlüssen und Übernahmen von EVU geführt hat, und die Entflechtung des Netzbetriebes vom übrigen Unternehmen erforderte. Auch die Zusammenfassung mehrer Energiearten in einer Querverbundleitstelle führt oft zur Erneuerung der Leittechnik.
Allgemein ist die Lebensdauer leittechnischer Einrichtungen begrenzt. Gegenüber der typischen Lebensdauer von 30 – 50 Jahren bei Primärgeräten ist Stationsleittechnik bereits nach 15 – 20 Jahren veraltet und Rechnersysteme nach 5 – 7 Jahren. Selbst wenn sie bei guter Pflege noch hinreichend einwandfrei arbeiten, wird eine Erneuerung notwendig, weil
der Mangel an Ersatzteilen und Know-how Instandhaltungsprobleme hervorruft,
der hohe Energieverbrauch die Geräte unwirtschaftlich werden lässt,
die geringe Flexibilität und die begrenzten Möglichkeiten die Betriebsführung erschweren.
Bei Erneuerung leittechnischer Einrichtungen sind die verschiedenen beschriebenen Leitebenen zu beachten:
in der
Station
-
Feldleitebene,
- Stationsleitebene,
dazwischen
- Kommunikationsnetz,
in der Leitstelle
- Koppelebene,
- Verarbeitungsebene.
Daraus ergibt sich eine ganze Reihe von Szenarien, die auch kombiniert auftreten können:
Das gesamte System in der Leitstelle und den Stationen ist derart veraltet, dass es komplett erneuert werden muss.
Die Leitstellentechnik muss erneuert werden, weil sie veraltet ist oder für die Übernahme eines anderen Netzbereiches nicht ausreicht.
Alte Fernwirkgeräte werden durch neue Stationsleitgeräte und digitale Kommunikationstechnik ersetzt.
Neu errichtete Stationen werden voll mit digitaler Leittechnik ausgerüstet und über digitale Kommunikationswege an die Leitstelle angeschlossen.
Neu errichtete Schaltfelder in konventionellen Stationen werden mit digitalen Feldleitgeräten ausgerüstet.
Ob und wie weit ein Beratungsunternehmen hinzugezogen werden sollte, richtet sich nach dem Umfang des Projektes und der Erfahrung und verfügbaren Zeit der Mitarbeiter im EVU. In den meisten größeren Projekten wird ein auf netzleittechnische Projekte spezialisierter und Hersteller-unabhängiger Berater Vorteile bieten:
Kenntnis der aktuellen und zukunftssicheren Technik,
genaue Marktübersicht,
Erfahrung beim Bearbeiten netzleittechnischer Projekte,
keine Betriebsblindheit,
mehr verfügbare Zeit als die eigenen Mitarbeiter,
oft mehr Wirkung gegenüber Führungskräften als eigene Mitarbeiter,
verfügt über Auswerte-Software für Tätigkeitsanalyse und Angebotsvergleich.
Wenn erkennbar ist, dass mit einer neuen Netzleittechnik organisatorische Veränderungen verbunden sein könnten, z. B. Fortfall von Unterleitstellen oder Änderungen der Schalthoheit, sollten diese frühzeitig in einer Tätigkeitsanalyse untersucht werden. Nur mit einer möglichst exakten Kenntnis, wer wann was im Netzbetrieb tut, können die Möglichkeiten der neuen Technik ausgeschöpft und diese optimal an die Betriebserfordernisse angepasst werden. Dabei werden alle einzelnen Tätigkeiten der mit der Netzbetriebsführung befassten Mitarbeiter über mehrere Wochen viertelstündlich erfasst und systematisch nach zwei Gesichtspunkten ausgewertet:
ihrer zeitlichen Verteilung über den Tagesverlauf,
ihrem relativen Zeitaufwand untereinander.
Auf der Basis des ermittelten Zeitbedarfs für die einzelnen Tätigkeiten können - unter Berücksichtigung neuer technischer Hilfsmittel - verbesserte Abläufe simuliert und damit hinreichend sichere Schlussfolgerungen auf künftige Personal- und Organisationsstrukturen gezogen werden.
Nachdem die Unternehmensleitung aufgrund einer Projektstudie und evtl. der Tätigkeitsanalyse die weitere Durchführung des Projektes genehmigt hat, ist eine Angebotsanfrage zu erstellen. Deren umfangreichster Teil ist das Erarbeiten und Zusammenstellen der Anforderungen an das neue System in einem Lastenheft. Um hier allen Beteiligten gerecht zu werden, sollte mit ihnen eine detaillierte Betriebsanalyse durchgeführt werden, welche die Gebiete
Informationen,
Prozessanschluss,
Mensch-Maschine-Interface,
Weiterführende Funktionen,
Schnittstellen zu anderen Bereichen,
Systemleistung und Verfügbarkeit,
zusätzliche Einrichtungen
umfasst und einen Zeitraum bis zu acht Monaten in Anspruch nehmen kann. Deshalb sollte sie die erste Tätigkeit zum Erstellen der Angebotsanfrage sein, auch wenn ihre Ergebnisse erst den dritten Teil bestimmen. Dabei werden z. B. alle im Leitsystem zu führenden Informationen auf ihren aktuellen Bedarf geprüft und anschließend typisiert.
Auch die notwendige Verfügbarkeit der Leiteinrichtungen ist sorgfältig zu erwägen und im Lastenheft festzulegen. Während die Verfügbarkeit der konventionellen Sekundärtechnik in den Umspannstationen wegen der vielen Einzelobjekte bisher nicht überschaubar war, lassen sich die Verfügbarkeiten der dort zunehmend installierten Stations- und Feldrechner durchaus beurteilen und in eine Gesamtbetrachtung einbeziehen. Dabei spielt das Block-Linien-Prinzip eine wichtige Rolle:
Gemeinsame Komponenten, wie die Zentrale, werden als Block bezeichnet. Ihr Ausfall bringt das gesamte System zum Erliegen.
Komponenten, die nur für Teile wichtig sind, werden als Linien bezeichnet. Ihr Ausfall macht nur ein Teilsystem nichtverfügbar.
Wenn eine Leitstelle n Unterstationen überwacht, macht der Ausfall der Zentrale die gesamte Überwachung unmöglich, der Ausfall einer Unterstation verringert die Überwachung jedoch nur um 1/n.
Bevor das Lastenheft in den Markt gegeben wird, ist bei größeren Leitsystemen festzulegen, auf welche Weise das Projekt abgewickelt werden soll. Dafür gibt es zwei Varianten, die beide wesentliche Vor- und Nachteile haben:
Bei Vergabe des gesamten Projektes an einen Generalunternehmer, fordert dieser für den (die) erhebliche(n) Aufwand und Verantwortung einen Zuschlag von etwa zehn Prozent des gesamten Auftragswertes. Er wird so weit wie möglich Produkte des eigenen Hauses einsetzen, auch wenn sie bei Mitbewerbern besser und vielleicht sogar billiger sind.
Bei Vergabe von Teilaufträgen an verschiedene Unternehmen liegt die gesamte Koordination und Schnittstellenverantwortung beim EVU. Sobald Komponenten verschiedener Hersteller nicht einwandfrei zusammenarbeiten, muss der Projektleiter den Schuldigen nachweisen. Dies bringt für den Auftraggeber einen beachtlichen Zusatzaufwand mit sich, hat aber den Vorteil, dass Probleme transparent werden und die gefundenen Lösungen akzeptabel sein müssen. Zwar kann ein Teil der Koordinationstätigkeit an Berater abgegeben werden (was die Kosten erhöht), aber die Verantwortung für die Gesamtfunktion kann dieser nicht übernehmen. Bei einigermaßen guter Kooperation der beteiligten Unternehmen und ihrer Technik werden Teilaufträge insgesamt billiger sein. Das Risiko ist auf jeden Fall höher.
Um den
Markt für öffentliche Aufträge, wozu die meisten Netzleitprojekte gehören,
europaweit zu öffnen, hat die EU-Kommission in der Sektorenrichtlinie ein
Vergabeverfahren festgelegt, das inzwischen auch in die deutsche Gesetzgebung übernommen
wurde. Darin heißt es:
„Die Auftraggeber behandeln alle Wirtschaftsteilnehmer gleich und nichtdiskriminierend und gehen in transparenter Weise vor.“ Drei Vergabeverfahrenen sind zulässig:
offenes Verfahren,
nichtoffenes Verfahren (beschränkter Wettbewerb),
Verhandlungsverfahren.
Für Netzleitprojekte kommt wegen der komplizierten Materie praktisch nur das Verhandlungsverfahren in Frage, in dem „der Auftraggeber sich an Wirtschaftsteilnehmer seiner Wahl wendet und mit einem oder mehreren von ihnen über die Auftragsbedingungen verhandelt“. Unabhängig vom Verfahren ist bei einem Auftragswert über 499.000,- € ohne Mehrwertsteuer ein vorgeschalteter europaweiter Aufruf zum Wettbewerb erforderlich.
Binnen 37 Tagen können alle geeigneten Hersteller die Teilnahme am vorgesehenen Verfahren beantragen und sind in eine Bieterliste aufzunehmen. Die Auswahl der Bieter, die eine Angebotsanfrage erhalten, muss nach objektiven Regeln oder Kriterien erfolgen, die schriftlich festgelegt sind und interessierten Lieferanten zur Kenntnis zu geben sind. Keinesfalls ist eine Diskriminierung ausländischer Bewerber zulässig; die Forderung nach Abwicklung und Dokumentation in deutscher Sprache gilt jedoch nicht als Diskriminierung.
Die detaillierte Bewertung für ein umfangreiches Leitsystem erfordert pro Angebot einen Aufwand von 30 bis 40 Manntagen, weil etwa 500 bis 700 Einzelkriterien aus jedem Angebot herauszusuchen, mit der Angebotsanfrage zu vergleichen und entsprechend zu bewerten sind. Da dieser aufwendige Vergleich nur für etwa drei Angebote (ggf. je Teilgebiet) durchführbar ist, kann das Bewertungsverfahren in zwei Stufen gegliedert werden:
eine Vorauswahl, um die weniger geeigneten Angebote auszuscheiden,
ein detaillierter Vergleich der angebotenen Eigenschaften, Leistungen, Bedingungen, Preise und möglichen Risiken bei den verbleibenden Angeboten.
Um objektive Bewertungskriterien zu erreichen, ist es zwingend erforderlich, sie bereits vor Eingang der Angebote zusammenzustellen und zu gewichten. Die Zeit nach Absenden der Angebotsanfrage an die ausgewählten Bieter ist dazu gut geeignet. Nach Eingang der Angebote dürfen Kriterien und Gewichte nicht mehr verändert werden. ...
Der Nutzen eines Netzleitsystems lässt sich kaum in Form eines finanziellen Gewinnes ermitteln, sondern nur durch eine möglichst gute Erfüllung der Anforderungen bei möglichst geringen Kosten. Deshalb empfiehlt sich zur vergleichenden Bewertung ein modifiziertes Entscheidungsfindungs-Verfahren, bei dem die in der Angebotsanfrage niedergelegten Anforderungen und Bedingungen gewichtet und ihre Erfüllung durch die einzelnen Angebote geprüft werden. Das Produkt aus Gewicht und Erfüllung ist der Nutzen. Die Addition des Nutzens aller Einzelkriterien mit reziproker Einbeziehung der Kosten ergibt den Gesamtnutzen jedes Angebotes und damit seinen Rang gegenüber den anderen.
Aus Kapitel 5, Realisierung und Inbetriebnahme Seitenanfang Hauptseite
Zwar liegt ab der Auftragsunterzeichnung die Projektverantwortung im wesentlichen beim Auftragnehmer, doch ohne intensive Mitarbeit des Kunden ist das Projekt zum Scheitern verurteilt. Bis zur Übernahme sind in enger Zusammenarbeit mit dem Auftragnehmer ist eine Menge wichtiger Arbeiten zu leisten. Die erste gemeinsame Tätigkeit beider Partner nach der Auftragsvergabe ist das Erstellen des Pflichtenheftes in einer Systemanalyse durch den Auftragnehmer unter aktiver Mitarbeit des Kunden. Da immer wieder Mitarbeiter des Netzbetriebes teilnehmen müssen, sollte sie auf jeden Fall am Sitz des Kunden stattfinden. Ziel der Systemanalyse ist es, die produkt-unabhängig gehaltenen Anforderungen des Lastenheftes zu verfeinern und mit den herstellerspezifischen Realisierungspflichten unter Berücksichtigung konkreter Lösungsansätze zu erweitern. Das Ergebnis ist ein Pflichtenheft, in dem die zu erbringenden Leistungen so detailliert beschrieben sind, dass es als Grundlage für die Erstellung bzw. Parametrierung des Systems beim Auftragnehmer dienen kann. Während das Lastenheft das was und wofür beschreibt, legt das Pflichtenheft fest, wie und womit die Anforderungen zu realisieren sind.
Genügend lange vor der Fertigstellung des Systems müssen alle Daten des zu führenden Netzes in das Datenmodell eingegeben werden. Das ist ein außerordentlich aufwendiger Vorgang, und ein geübter Mitarbeiter kann - abhängig von der Qualität der Datenaufbereitungs-Software - etwa 10 000 Datenpunkte (TA) pro Jahr erfassen. Zwar gibt es heute kaum noch Netze, die nicht in irgend einer Weise rechnergestützt geführt werden und die Übernahme der in diesen Systemen hinterlegten Daten kann die Datenerfassung für das neue System erleichtern. Doch wird es sich dabei oft nur um die Objektattribute handeln; alle anderen Angaben sind in der Regel für das neue Datenmodell nicht verwendbar. Der Aufwand wird also - auch bei Übernahme vorhandener Daten - noch beträchtlich sein. Wenn bei erneuerter Stationsleittechnik die Daten bereits in den Stationen eingegeben sind, können sie übernommen werden. Grundlage für die Erfassung sind die bereits in der Betriebsanalyse definierten Partialtypen (Kapitel 4) und die dabei zusammengestellten Listen ihrer realen Anwendungen (Technologische Namen).
Zur Datenerfassung stellt der Auftragnehmer ein Vorabsystem beim Kunden bereit, auf dem die Daten einzugeben sind. Dieses System muss dieselben Qualitäten haben wie das endgültige, denn nie wieder werden so viele Daten eingegeben, wie zu dieser Zeit. Eine technologisch orientierte Testmöglichkeit muss mitgeliefert werden, um die Richtigkeit der Eingabe ohne bloßen Listenvergleich prüfen zu können.
Größere Leitsysteme sollten vor der Auslieferung von Mitarbeitern des Kunden eingehend geprüft werden. Diese Werksprüfung stellt keine Abnahme im Sinne des Vertragsrechtes dar, sondern zeigt lediglich beiden Partnern, dass das System reif zur Aufstellung beim Kunden ist. Zweifellos wird jeder Hersteller ein neues Leitsystem sorgfältig prüfen, aber die Prüfungen durch Programmierer, die an der Erstellung beteiligt waren, sind zwangsläufig einseitig. Mitarbeiter des Kunden gehen zum ersten Mal unter Betriebsgesichtspunkten auf das System los und rufen dabei Konstellationen hervor, die sich kein Programmierer ausdenken kann. Werden diese Prüfungen erst nach Auslieferung durchgeführt, stören Fehler möglicherweise den echten Betrieb und binden vor allem eine Reihe von Mitarbeitern des Lieferers am Ort des Kunden.
Wenn Teile oder die gesamte Stationsleittechnik erneuert worden sind, müssen diese Teile von den Quellen bis zur Leittechnik geprüft werden. Da die Erneuerung in den Stationen zeitunabhängig vom Netzleitsystem ist, sollte sie möglichst früh fertig gestellt sein und kann schon bis zu den Ausgängen aus der Station geprüft werden .
Nach Abschluss der Werksprüfungen und Nachbesserung der gefundenen Fehler wird das neue System beim Kunden montiert und einem Montage-Abschlusstest der Grundfunktionen (Hardware, Betriebssystem, Netzwerk, Datenbank etc.) unterzogen. Unabhängig vom Anschluss der Kommunikationseinrichtungen an das neue Leitsystem sollte sofort nach dem Montage-Abschlusstest eine signifikante Auswahl der in der Werksprüfung durchgeführten Prüfungen wiederholt werden. Dazu gehört die richtige Verarbeitung aller Objekt-/Attributdefinitionen in Darstellung, Tagebuch, Archiv und Befehlswegen und das anforderungsgemäße Arbeiten aller weiterführenden Funktionen. Damit wird nachgewiesen, dass das System auch in der neuen Umgebung stabil läuft.
Wenn alle Funktionen zufriedenstellend laufen, könnten die Prozessanschaltung und Aufnahme der Betriebsführung zügig erfolgen, wenn alle Beteiligten von der fehlerlosen Qualität der neuen Einrichtungen überzeugt wären. Das ist aber oft nicht einmal der Hersteller.
Da die Energieversorgung der Kunden von der zuverlässigen Funktion der Leittechnik abhängt, kann das EVU die Betriebsübernahme auf die neuen Einrichtungen erst genehmigen, wenn diese die zur Übernahme festgelegten Anforderungen erfüllen. Diesen Nachweis muss der Hersteller erbringen, wobei ihn die Mannschaft des EVU im eigenen Interesse nach Kräften unterstützen sollte. Ein Problem bei dem Nachweis ist, dass viele Prüfungen nur mit angeschlossenem Prozess ausführbar sind, sie aber andererseits den Zweck haben, überhaupt erst die Vertrauensbasis für den Prozessanschluss zu liefern. Ein schrittweises Vorgehen mit einer längeren Erprobung der neuen Technik parallel zur alten kann hier das notwendige Vertrauen schaffen. Auf jeden Fall muss in den neuen Koppelrechnern die Befehlsrichtung bis zur letzten Prüfung sicher blockiert sein. Das weitere Vorgehen ist auch davon abhängig, ob die Stationsleittechnik ebenfalls erneuert wird oder die vorhandenen Fernwirkgeräte beibehalten werden
Im ersten Fall werden völlig neue Kommunikationsstrecken zwischen der neuen Stationsleittechnik und dem neuen zentralen Leitsystem aufgebaut und die neuen Einrichtungen zusätzlich am Rangierverteiler mit dem Prozess verbunden. Sie sind auch schon bis zum Ausgang der neuen Stationsleitgeräte geprüft. Im zweiten Fall sollte in den Stationen eine Schnittstelle zum digitalen Kommunikationsnetz geschaffen werden, auf die die alten Fernwirkgeräte parallel aufgeschaltet werden.
Der Auftraggeber wird die vollständige Aufnahme der Betriebsführung durch das neue Leitsystem genehmigen, wenn
alle Informationen in Melde- und Steuerrichtung in allen Stationen erfolgreich bis in die neue Leitstelle geprüft worden sind,
alle Funktionen des neuen Systems in der Betriebsumgebung fehlerfrei nachgewiesen sind,
die Verfügbarkeit des neuen Systems den für den Probebetrieb vorgeschriebenen Wert erreicht hat.
Nach dieser Entscheidung werden möglichst schnell alle Befehle auf das neue System umgeschaltet und der normale Betrieb in die neue Leitstelle übernommen. Das alte System sollte aber noch betriebsfähig bleiben. Zur Beseitigung betriebseinschränkender Fehler sollte der Lieferer von diesem Zeitpunkt an bis zur Übernahme durch den Kunden (Ende des Probebetriebs und Beginn der Gewährleistung) einen Bereitschaftsdienst unterhalten.